Literarische Abenteuer. Young-ha Kim: „Aufzeichnungen eines Serienmörders“

Young-ha Kim gilt als „begnadetster koreanischer Schriftsteller seiner Generation“(1). Sein tragikomischer Krimiroman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ (Salinja-ui gieokbeop, 2013) hat in Korea den Rang eines Bestsellers erreicht und wurde zudem in 2017 verfilmt. In Deutschland krönte der Roman monatelang die Krimibestenliste.

Das spannende Schicksal des 70-Jährigen Serienmörders Byongsu Kim, die Progression seiner Erkrankung an Alzheimer und die Schlacht zwischen Tod und Vergessen bieten in der Tat ein außergewöhnliches und vor allem hochspannendes Leseerlebnis – denn als letzten Akt seiner Lebensgeschichte plant Byongsu Kim den Mord eines höchst gefährlichen Gegners.


Zu Beginn der Handlung ist Byongsu Kim von seiner Unantastbarkeit überzeugt.

Der pensionierte Tierarzt hat vor fünfundzwanzig Jahren mit seiner eigentlichen Leidenschaft, dem Morden, aufgehört, und versucht sich nun als Lyriker. Er studiert die klassischen Philosophen, zitiert Nietzsche, und scheint mit seiner Stellung im Herbst des Lebens zufrieden zu sein. Sein Haus ruht am Berg neben dem Bambushain, in dem seine Opfer begraben sind. Denn Spurensuche sei zu seiner Hochzeit in den 60ern ohne Fingerabdrücke und DNA ein geradezu lächerliches Unternehmen gewesen.


Ich besuchte den Lyrikkurs ziemlich lange.
Ich hatte mir vorgenommen, den Dozenten umzubringen, falls ich mich langweilen sollte.
Zum Glück war der Kurs aber interessant. Der Mann brachte mich ein paarmal zum Lachen, zweimal lobte er sogar meine Gedichte.
Deshalb ließ ich ihn am Leben.
Wahrscheinlich weiß er bis heute nicht, dass er auf geborgte Zeit lebt.
Neulich las ich seinen neuesten Gedichtband, eine einzige Enttäuschung.
Vielleicht hätte ich den Mann damals doch gleich um die Ecke bringen sollen.
Ein genialer Mörder wie ich hängt das Morden an den Nagel,
und er mit seinem mittelmäßigen Talent
wagt es, weiter Gedichte zu schreiben!
Eine Frechheit!


Noch ist Byongsu Kim sich und seiner Sache sicher und bietet als Erzähler eine charismatische, humorvolle Schilderung der momentanen Umstände. Der schwarze Humor, der auch dem Kursleiter aufgefallen sein soll, überzeugt als Ton beim Lesen der ersten Tagebucheinträge.

Die graduelle Fragmentierung seiner Realität nimmt der Protagonist ebenso mit Leichtigkeit auf. Er hat seine klaren Tage und Unterstützung in Form von Aufnahmegerät und Notizblock, und blickt der Verwesung mit einer leichten Resignation und Akzeptanz ins Auge.

Bis plötzlich eine Gefahr in sein Leben tritt, eine Bedrohung des Lebens seiner Adoptivtochter – die er um jeden Preis verhindern muss. Zeitgleich lässt sein Gedächtnis mehr und mehr nach. Immer öfter kommt er an unbekannten Orten desorientiert zu Bewusstsein.


Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Und das Vergessen kann ich nicht aufhalten.
Mein künftiges Ich, das alles vergessen haben wird, wird nicht mein jetziges Ich sein.
Wie also kann, wenn es denn ein nächstes Leben geben sollte, ich, der ich nicht in der Lage sein werde, mich an mein jetziges Ich zu erinnern, ich sein?
Das spielt mithin keine Rolle.
Derzeit beschäftigt mich nur eines: Ich muss verhindern, dass Unhi umgebracht wird.
Bevor mir das Gedächtnis gänzlich abhanden kommt.


Schnell, viel zu schnell zerfällt alles in Fragmente – bis die mit Notizzetteln gefüllte Wand nur noch eine fremde Realität darstellt, die nichts mit seiner Erkenntnis zu tun hat.

Der angebliche Mörder transformiert in einen Kommissar – ist Unhi etwa gar nicht diejenige, die er sie zu sein glaubte – und ist seine Vergangenheit überhaupt seine?


© Amazon *

Die zunehmende Dekonstruktion des Protagonisten wird auch auf visuelle Art und Weise realisiert: die Seitenzahlen im Buch verblassen, sodass die Reihenfolge der Einträge verunsichert wird. Die aus dem Text gerissenen kontextfreien Sätze auf dem Buchdeckel sind zum Teil ebenso vergilbt gedruckt, wie die Erfahrungen und Erinnerungen, die ihnen zugrunde liegen.

Elemente, die der Umsetzung im Cass Verlag hoch anzurechnen sind – genauso wie der riskante, jedoch goldene Griff der Verlegerin, promovierten Japanologin Katja Cassing, in die für den deutschen Markt gänzlich unbekannte „Schatzkiste“ (2) der Krimiromane, zunächst aus Japan, später auch Korea.

Das Endergebnis der Handlung ist entsetzlich und unerwartet – für Byongsu Kim, für Unhi, und für den Leser.


„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ ist voller kleiner wertvoller Nuancen, wie die offensichtliche Ironie zwischen den Berufen des Tierarztes und des Serienmörders, die Vergleiche zwischen dem schriftstellerischen Schaffen und dem Morden – bis hin zur Konzept der Kunst als vergleichbar mit dem Mordakt.


Vergleiche zur Europäischen Literatur möchte ich hier ziehen mit der großartigen Erzählung „Der Horla“ von Guy de Maupassant wegen den Elementen des subjektiven Wahnsinns und den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke wegen dem Element der Unberechenbarkeit. Doch bietet Young-ha Kims Roman meines Erachtens diesen Werken vollständig die Stirn.


Als Fan von koreanischer und japanischer Film-/-Kunst habe ich gemeinsame Nenner wie die ästhetische und inhaltliche Freiheit angesichts grausamer Gedanken, expliziten Szenen der Brutalität und damit verbundenen symbolischen Elementen vorausgeahnt. Dennoch war ich von der Vollkommenheit und den Feinheiten innerhalb der Passagen beeindruckt.

Kenner mögen mich hier berichtigen, sollte es sich um eine grobe Verallgemeinerung handeln – doch viele der detaillierten Aspekte, die mich beim koreanischen Oscar-gekrönten Film „Parasite“ überzeugt und begeistert haben, fand ich auch in diesem Buch wieder. Daher spreche ich meinerseits den Fans dieses Films und der koreanischen Filmszene eine besondere Leseempfehlung aus.


Young-ha Kims Roman bietet ein einzigartiges, nuanciertes, spannendes Leseerlebnis und ist unbedingt zu erkunden.

Hier geht’s zur Leseprobe.


Bibliografie

Titel: Aufzeichnungen eines Serienmörders
Autor: Young-ha Kim
Seitenzahl: 152
Erscheinungsdatum: Februar 2020
Verlag: cass verlag
ISBN: 9783944751221

Aufzeichnungen eines Serienmörders online bestellen bei: Thalia *    buch24.de *


(1) Cass Verlag: Aufzeichnungen eines Serienmörders
(2) Bleisatz.: Auf dem Sprung zum großen Publikum

FAZ Feuilleton: Ein letztes großes Verbrechen
Bücherkaffee: Aufzeichnungen eines Serienmörders


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1 Antwort

  1. Ich fand es ganz wundervoll! Ein Highlight in 2020 für mich.

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  2. Das klingt extrem spannend, sowohl Inhalt als auch Aufmachung. Werde ich sehr sicher zeitnah lesen.

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