Literarische Abenteuer. Leïla Slimani: „Das Land der Anderen“

© Piotr Arnoldes

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gehört zu den wichtigsten Stimmen europäischer Gegenwartsliteratur. Ihre Romane und Essays sprengen konventionelle Denkmuster, trauen sich mit analytischem Blick in die von der Öffentlichkeit unberührten Ecken der weiblichen Psyche und hinterfragen kritisch herrschende politische Strukturen sowohl im westlichen als auch im östlichen Gefilde.

In ihrem neuesten Roman „Das Land der Anderen“ (Le pays des autres, 2020) analysiert Slimani an einer unkonventionellen Liebesgeschichte entlanggleitend die konfliktreiche Umbruchszeit in Marokko nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus individuellen Krisen und Kämpfen mit Diskriminierung, Rassismus und Tyrannei entsteht das Panorama eines leidenden Landes.


© Penguin Random House

Als die junge Elsässerin Mathilde ihrem zukünftigen Ehemann begegnet, ist dieser ein Offizier der französischen Armee. Mathilde heiratet Amine und folgt ihm auf den von seinem Vater geerbten Hof in Meknès im nördlichen Marokko.

Plötzlich steht die junge Frau nicht nur einer fremden, unfreundlichen Umgebung gegenüber. Mathilde muss zudem lernen, mit unerwarteten Formen der Einsamkeit zurechtzukommen – denn weder Amines Haus und Familie noch seine Grundprinzipien entsprechen Mathildes ersten Vorstellungen.

Gemeinsam stellt sich das unkonventionelle Tandem der beidseitigen gesellschaftlichen Missgunst einer französisch-arabischen Ehe, folgt ihren Ambitionen zur Bepflanzung der trockenen Erde und gründet eine Familie, deren Erziehung die die in Marokko geltenden scharfen Grenzen zwischen Geschlechtern, Rassen und Klassen nur deutlicher unterstreicht.

Das erhoffte Glück lässt in jeder Hinsicht auf sich warten.


Die graduelle Unterdrückung von Mathildes persönlicher Freiheit und die Denunzierung ihrer als Europäerin gewohnter Gleichstellung sind unglaublich verärgernd und lassen einen zunehmend bitteren Geschmack im Mund. Der Umgang mit Frauen im Marokko der 1950er Jahre ist an sich unverzeihlich.

Dennoch kann ihr langsamer Zerfall mit einer jeden sich opfernden Mutter in ärmlichen Verhältnissen gleichgesetzt werden, da sie sich mehrwerdend für ihre Familie opfert und ihr eigenes Selbst immer weiter aufgibt:


Jedes Mal, wenn Amine ihr einen Geldschein zusteckte, wenn sie sich
ein Stück Schokolade gönnte, aus Naschlust, nicht aus Notwendigkeit,
fragte sie sich, ob sie es verdient hatte. Und sie fürchtete,
dass sie eines Tages, als alte Frau auf diesem fremden Boden,

nichts besitzen würde und nichts vollbracht hätte.2


Grundsätzlich gilt die Wut bei der Lektüre vor allem der patriarchalen Strukturen in der islamischen Gesellschaft, in die Mathilde sich als fremdes Element begibt. Obwohl Mathilde und Amine sich angeblich lieben, hat die junge Frau angesichts der herrschenden Traditionen keine andere Wahl, als sich nach und nach den Lebensmodellen anderer marokkanischer Frauen anzupassen.

Brutaler wird die Familie allerdings von der französischen Kolonialgesellschaft behandelt, die die Ehe für vollkommen unangebracht hält und keine Gelegenheit ungenutzt lässt, um ihre Verachtung Amine gegenüber zur Geltung zu bringen. Unmenschliche Gewalttaten und psychologischer Terror werden zweifelsohne auf beiden Seiten ausgeübt.


Ob die Tatsache, dass die erzählte Geschichte auf dem Leben von Slimanis Großmutter basiert,1 die generelle innere Unruhe verringert, die man bei der Lektüre verspürt – denn das Buch hat mich persönlich ordentlich verärgert – sei jedem Leser selbst überlassen. Fest steht: Slimanis Schreibstil ist erneut phänomenal, es ist schwierig den Roman nicht in einem Schwung durchzulesen.

Dies variiert allerdings mit regelmäßigen Impulsen, der Protagonistin und ihrem Ehemann abwechselnd heftig einmal ins Gesicht zu schlagen. Slimanis Romane waren allerdings schon immer ungemütlich – im besten Sinne dieses Wortes.

Die Autorin beschreibt schmerzvolle Realitäten, die über die marokkanische Geschichte hinausgehen, indem sie die repräsentativen Häuser aller Parteien betritt.

Sie berichtet detailliert über Skrupellosigkeit, religiösen Fanatismus, Unterdrückung von Schwächeren und männliche Gewalt. Zeitgleich geht es aber auch um die Fragmentierung einer Gesellschaft, die Zerstörung von Familien und die Unterdrückung von individuellen Freiheiten im Allgemeinen – beispielsweise die Tatsache, dass eine homosexuelle Figur vorkommt, fügt der realitätsnahen Situationsschilderung einiges hinzu.


Im Laub hörte man die Vögel flattern, und Dragan stiegen Tränen in die Augen
angesichts der Gleichgültigkeit der Natur gegenüber der menschlichen Dummheit.
Sie werden einander umbringen, dachte er,
und die Schmetterlinge werden weiter fliegen.“2


Man könnte durchaus hervorheben, wie leichtsinnig diese Protagonistin in ihrem Optimismus gewesen ist, dass sie für ihre Naivität teuer bezahlen musste. Der Kampf um die Träume ihres Mannes hat Mathilde ihre eigenen gekostet – zugleich teilen beide Eheleute sich die Schuld für ihre Misere.

Zuletzt handelt es sich um eine unlösbare Krise, eine situative Zerstörung potenzieller Glücksmomente durch den Krieg, die Segregation, den rassistischen Grundgedanken und der regressiven Gesellschaft, in der die Figuren sich befinden.


Haben Mathildes zahlreiche Opfer und ihr erarbeitetes Glück sich auf der Waage zu guter Letzt ausgeglichen? Kann Gewalt je ein Indiz für Liebe sein? Gehören Lust und Angst zusammen? Wie können Bewohner eines leidenden Landes innere Ruhe finden?

Diese Fragen und mehr hat „Das Land der Anderen“ für mich hinterlassen – und die Reflexion hat im Nachklang nur an Gewicht gewonnen.


Slimani hat eine Geschichte voller Konflikte, Gegensätze, faszinierender Figuren und blutigen Konfrontationen geschrieben, in dem es zeitgleich um die Souveränität von Individuen, Minderheiten, Länder und um Historie selbst geht. Durch diese intrikate Auseinandersetzung voller starker Eindrücke hat die Autorin erneut zahlreiche brennende Themen aus einer kritischen Perspektive berührt.

In Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Lektüre mit Sicherheit unglaublich viele widersprüchliche Gefühle zwischen Hass und Bewunderung auslösen wird, spreche ich an dieser Stelle meine persönliche Leseempfehlung aus. Eine kurze emotionale Vorbereitung lohnt sich allerdings – wie immer bei dieser wundervollen, mutigen Autorin.

Und nun bin ich gespannt auf Ergänzungen, Gedanken und Eindrücke. Kennst Du schon Leïla Slimanis Romane oder Essaybänder? Welchen ihrer Bücher sollte man unbedingt gelesen haben?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!

Hier geht’s zur Leseprobe.

1 – Vita von Slimani bei Penguin Random House.
2 – Zitate von S. 127 und 351.

Bibliografie:

Titel: Das Land der anderen
Autor: Leila Slimani
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 24.05.2021
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87646-7

Das Land der anderen bestellen: genialokal.de* |  Thalia * | bücher.de * | buch24.de *


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„Klasse und Kampf“
Vitomil Zupan: „Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss)“
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Vielen Dank!



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1 Antwort

  1. Lies auch „All das zu verlieren“. Es haut dich um. Slimani macht süchtig. Eine grossartige und unbequeme Autorin im positiven Sinne.
    Herzlichst buechermaniac

    Gefällt 1 Person

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