Literarische Abenteuer. Ryūnosuke Akutagawa: „Rashomon. Erzählungen“

© 邱 韬

Dichter und Schriftsteller Ryūnosuke Akutagawa (1892–1927) gehört zu den Klassikern der modernen japanischen Literatur. Bekannt wurde er mit seinen Kurzgeschichten bereits in den 1910er Jahren. Akutagawa wird als der Vater der japanischen Kurzgeschichte bezeichnet, der wichtigste Literaturpreis des Landes ist nach ihm benannt.

Zweifelsohne wurde Akutagawa also als Meister seines Werkes geschätzt und verehrt. Doch wieso sind seine Kurzgeschichten so irritierend?


© Penguin Random House

Nicht nur die inneren Konflikte des Autors aufgrund der schwierigen Beziehungen zur früh verstorbenen, psychisch gestörten Mutter – mithin der Angst um den eigenen Geisteszustand – prägten Akutagawas Werk.

Der Autor lebte zu Zeiten der Taishō-Demokratie, die nach dem Regierungswechsel in Japan ein grundsätzliches Aufblühen von kultureller Diversität ermöglichte. So wurde auch Akutagawas Pionierarbeit geschätzt und gerühmt, wo er zu späteren Zeiten ggf. in Vergessenheit geraten wäre.


Die für japanische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus unkonventionelle Kombination aus ästhetischen Idyllen und sofortiger Verstörung dieser Momente, düsteren Beschreibungen geistiger Imbalance, die mit Nihilismus gemischten kritischen Gesellschaftsspiegelungen und Verarbeitung kollektiver historischer Traumata durch Bearbeitung älterer Materialien (als Vorbild diente die Konjaku Monogatarishū aus dem 12. Jahrhundert) ließ den Autor zunächst auf Widerstand und Kritik seiner Zeitgenossen stoßen.

Dennoch kam der Erfolg bereits mit seinen ersten Kurzgeschichten.

Mehr zur hochgradig interessanten Biografie, Erkrankung und Selbstmord von Akutagawa empfehle ich über die unten angegebenen Links zu erfahren – an dieser Stelle soll es primär um die Kurzgeschichten gehen.


Der Erzählband beginnt mit der Titelerzählung „Rashomon“, die mit „Im Dickicht“ kombinatorische Inspiration für den gleichnamigen Kultfilm darbot. Die Geschichte beschreibt den Widerspruch von verankerten Konventionen wie das starke Ehrengefühl der japanischen Gesellschaft und die gleichzeitige moralische und wirtschaftliche Verwüstung. Im prasselnden Regen sucht ein arbeitsloser Mann nach Unterschlupf an einem zerfallenen Tor, dem Rashomon – in einer zerfallenen Straße, einer zerstörten Stadt. Seine Situation scheint hoffnungslos zu sein, der unmittelbare Hungertod unvermeidbar. Eine unerwartete Begegnung rettet den Mann zeitgleich aus seiner Situation – und stürzt ihn in einen moralischen Abgrund.

Ebenso reflektiert der Autor an vielen Stellen über das Literatentum, den sentimentalen sowie den kulturellen Wert eines Kunstwerkes und die erheblichen Opfer, die ein Schaffender bringen muss. Die Zensur und kulturelle Züchtigung thematisiert er beizeiten an mehreren Stellen, zahlreiche seiner Protagonisten sind Künstler oder Literaten. So spricht eine nahe an Akutagawa anlehnende Figur über die gefährliche Position eines Autors:


Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt,
daß nur im fernen Altertum Bücher verbrannt
und Literaten lebendigen Leibes begraben wurden.“1


Die wirkungsvollste Geschichte nicht nur bezüglich dieser Thematik, sondern im gesamten Erzählband ist meines Erachtens jedoch „Die Hölle“. Hier thematisiert Akutagawa die Angst, sich in den düsteren Tiefen der eigenen Kunst zu verlieren. Die Geschichte zeigt die erschreckende Innenwelt eines genialen und grausamen Künstlers, der bereitwillig menschliche Opfer für seine Kunst als höchstes Ziel erbringt – bis er schließlich ein Stück seines Selbst für sein größtes Meisterwerk opfern muss.

Wirklich jede einzelne Seite dieser Geschichte ist grausiger als die vorherige – bis hin zum verstörenden Schluss.


Nein, noch mehr sträubten sich ihm die Haare, als er beim flüchtigen Hinschauen merkte,
daß sein Meister Yoshihide ungerührt zusah, wie der seltsame Vogel ihm,
dem mädchenhaften jungen Burschen, zusetzte,
seelenruhig sein Papier ausbreitete, am Pinsel leckte und das grausige Bild skizzierte.“1


Gerade Akutagawas frühe Erzählungen haben einen düsteren Grundton, der ins Fantastische überleitet und mythologische Elemente besitzt – dahingegen sind die späteren Erzählungen realistischer und gesellschaftskritischer geformt. Dementsprechend geschieht ca. mittig im Erzählband ein Bruch, der verwirrend wirken kann. Bemerkbare Veränderungen in seinem Stil und Inhalten gegen 1919 waren mit dem korrespondierenden Verfall seiner eigenen geistigen Gesundheit verbunden. Im Gegenspiel zum realistischen Grundton und zunehmenden Anlehnungen zu zeitgenössischen Ereignissen ließen die Erzählungen mehr inhaltliches offen, blieben des Öfteren fragmentarisch und beinhalten kausalische Unklarheiten, die im Leser eine Verwirrung auslösen können.


Persönlich fand ich die früheren Erzählungen in ihrer Kombination von düster, makaber, romantisch und humorvoll ansprechender als die späteren Geschichten. Allerdings liegt dem Spätwerk argumentativ eine höhere Authentizität inne. Die ihnen eigene Diskrepanz zwischen Klarheit und Mehrdeutigkeit, die üblicherweise in umgekehrter Erscheinung auffindbar ist, wenn es um divergierende Formen und Inhalte geht, verstärkt nur Akutagawas individuelle Autonomie.

Es gäbe noch zahlreiche Aspekte zu erwähnen, beispielsweise das an zeitgenössische Traditionen lehnende Frauenbild und dessen Assoziation mit autobiografischen Elementen. Allerdings bietet „Rashomon“ mit seinen über 400 Seiten 26 Erzählungen von 1915 bis 1927 (aus dem Nachlass) über alles erörterte hinaus eine unglaubliche Reichweite und Dichte an kulturellen, sozialhistorischen und psychologischen Details, die sowohl in Anlehnung an japanische Historie als auch die Biografie des Autors vielfältig zu interpretieren sind.

Verehrer der japanischen Kultur und Literatur werden in diesem Erzählband ein multifacettiertes Juwel vorfinden, in welches es sich mit Sicherheit lohnt, zu vertiefen. Doch kann „Rashomon“ nicht in einem Zug oder in einer Woche verschluckt werden – eine langatmigere Lektüre in mehreren Schritten lohnt sich eher.


Und nun freue ich mich auf Gedanken und Empfehlungen zum Buch und zum Film „Rashomon“, darüber hinaus insbesondere auf Ergänzungen aus dem japanischen Kulturraum. Welchen klassischen und modernen japanischen Autor muss man unbedingt gelesen haben? Welche Neuerscheinungen sind großartig?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!

1 – Zitate von S. 69 (Das Versunkensein des Dichters); S. 111 (Die Hölle)

Bibliografie:

Titel: Rashomon. Erzählungen
Autor: Ryūnosuke Akutagawa
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 07.08.2001
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-62012-1

Rashomon bestellen: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *


Mehr zum Autor:

About Japan: Akutagawa Ryunosuke and the Taisho Modernists
Japanische Literatur Blog: Ryūnosuke Akutagawa
Miss Booleana Blog: ausgelesen: Ryunosuke Akutagawa „Rashomon – Erzählungen“
Stein, Armin : Die Fluten des Sumida. Der japanische Schriftsteller Akutagawa Ryūnosuke und die Metropole Tōkyō
Wikipedia (engl.): Ryūnosuke Akutagawa
Wikipedia (dt.): Akutagawa Rynosuke


Mehr literarische Abenteuer:

Sharon Dodua Otoo: „Adas Raum“
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1 Antwort

  1. Danke für den sehr interessanten Text. Jetzt kenne ich endlich mal ein Buch, kann mich aber nicht mehr daran erinnern weil es schon 15 Jahre her ist.😂
    Erinnere mich aber daran eher verhalten darauf reagiert zu haben. Muss aber nichts mehr bedeuten nach so langer Zeit.

    Habe vor ein paar Monaten erst wieder den Film gesehen zu haben. Welcher natürlich nicht das ganz Buch behandelt.

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  2. Sorry will dich nicht zutexten aber du hattest ja nach anderen Büchern oder Autoren gefragt. Ich persönlich habe hauptsächlich Bücher von Murakami und Banana Yoshimoto gelesen. Die sind ja doch sehr bekannt international. Empfehle immer gerne noch das Buch „Verdächtige Geliebte“ von Keigo Hinashito. Ist zwar „nur“ ein Krimi (ein sehr guter meiner Meinung nach), ist aber irgendwie ein Buch das ich nie ganz vergessen konnte.

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  3. klingt interessant – kenne ich noch gar nicht. Werde wohl demnächst mal einen Blick in die Sammlung werfen.

    (Falls der Kommentar doppelt erscheint – die Seite sagte mir gerade, er könne nicht veröffentlich werden…)

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  4. Vielen Dank für die Erwähnung 😉 Und was mich auch besonders freut über jemanden zu stolpern, der*die das Buch auch gelesen hat – endlich! 😀
    Allerdings muss ich gestehen, dass ich mich ganz schön durch den Band kämpfen musste. Die düstere Weltsicht war nicht an jedem Tag meins. Das Ganze betrachtend ist Akutagawa aber eine beeindruckende Persönlichkeit, der wie es die Floskel vorgibt „seiner Zeit voraus zu sein schien“. Insbesondere die Geschichten, in denen er seine geistige Gesundheit und die nicht gerade hilfreiche Umwelt thematisiert, haben mich verblüfft und sind mir am meisten in Erinnerung geblieben.

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    • Sehr gerne! Ich finde es auch immer besonders schön, sich auf skurrileren literarischen Abenteuern mit anderen zu treffen 😉
      Die Erzählungen gegen Ende haben mich auch Mühe gekostet. Es ist eben dann nach Recherchen über das Leben des Autors (welches diese Veränderungen in Stil und zerstückelter Handlung ja beeinflusst) zwar nachvollziehbar, warum – macht die Lektüre jedoch nicht leichter.
      An japanische Literatur muss man sich, nach meinen Erfahrungen, meistens in einem gewissen Sinne wirklich heranarbeiten – makabre Elemente und ungemütliche Gedanken, Todesnähe und düstere Töne – wenn nicht in diesem Maße – finde ich in den meisten gelesenen Romanen. Doch zieht mich das, wie bei japanischen und koreanischen Filmen, gerade eben an 🙂

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      • Oh ja, das kann ich nur bestätigen. Japanische Literatur liest sich definitiv anders. Thematische trauen die sich jede Menge. Düster? Ja, durchaus manchmal. Aber auch sehr reflektierte und vielfältige Gedankenwelt. Murakami lese ich hin und wieder gern. Neulich habe ich mir auch mal People From My Neighbourhood von Hiromi Kawakami zu Gemüte geführt mit Mikro-Geschichten. Die waren auch überraschend, manchmal sehr surreal. Das surreale scheint den Japanern sowieso ausgezeichnet zu liegen ebenso wie Magischer Realismus.

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