Schottischer Autor Douglas Stuart erzählt in seinem Debütroman eine ergreifende Familiengeschichte über Armut, Sucht, Liebe, Einsamkeit und Hoffnung. In den elendigen Stadtvierteln und Sozialwohnungen von Glasgow schlägt sich die schöne Agnes Bain durch ein Leben voller Leid und Enttäuschung.
Agnes‘ Alkoholsucht drückt sie von Jahr zu Jahr tiefer auf den schwarzen Boden der Hoffnungslosigkeit. Immer grausamere Opfer lässt sie ihre Kinder für sich bringen – bis kein Entkommen mehr ersichtlich ist.

„Shuggie Bain“ (2020) spielt in den 1980er-Jahren in Glasgow, im Milieu der Arbeiterklasse, wo Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken eine Alltagsangelegenheit sind und eine falsche Antwort auf die Frage „Celtic oder Rangers“ zu tiefen Narben im Gesicht führen kann.
Anders zu sein in einem sozialen Raum, der keine Kapazitäten für Erfolg, Individualität oder persönliche Entfaltung vorsieht, ist das Schicksal des jüngsten Sohnes Shuggie, der lieber mit Puppen und Ponys als Fußball spielt.
Wegen seines Gangs, seiner Sprechart und seiner Manier wird er von Schulkameraden, Lehrern, Nachbarn – und seinem eigenen Vater – gemobbt, geschlagen, bespuckt und missbraucht.
Diese Welt möchte es unter keinen Umständen zulassen, dass aus kleinen Jungs etwas anderes – mehr – wird als ihre Väter und ihre Mütter.
Denn auch Shuggies Vater Big Shug und Agnes zerstören sich fortlaufend gegenseitig, da sie es nicht anders kennen:
„Er musste die kleinen Knochen ihrer Hand zerquetschen, damit sie losließ. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ.
Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen.
Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte.“(131)
Leser:innen lernen nicht nur die Kernfamilie dieser Geschichte kennen. Eine reichhaltige Ausstattung der Nebenfiguren hat Stuart ebenso erfolgreich vorgenommen. Die Hintergründe von Agnes‘ Eltern und ihres verstorbenen Halbbruders werden erörtert, die halbwegs liebevolle Dynamik zwischen Shuggies älteren Geschwistern ausgeführt – und hinter die vergilbten Gardinen einiger anderer Häuser geschaut, in denen Elend ebenso das Einzige ist, was in großen Portionen am Abendtisch ausgeteilt wird.
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Agnes‘ Schönheit, ihre Weiblichkeit und glamouröse Erscheinung verzaubern Shuggie von klein an. Seine Mutter ist seine große Liebe, ihm gebührt es, sie von ihrer Krankheit zu retten – bis seine kindliche Naivität nach und nach zerschmettert wird und er merkt, dass es bereits zu spät sein könnte, um sich selbst zu retten.
Welcher Sachverhalt gilt nun als tragischer: Dass hinter dieser atemberaubenden Fassade keine Zuneigung oder Mutterliebe für Shuggie zu finden ist, oder dass keine Flasche der Welt ihre tiefliegende Einsamkeit füllen kann?
Beide Perspektiven führt Douglas mit einer erschütternd emotionalen Genauigkeit aus.
„Sie war sich sicher, dass sie zu Leek hochlächelte, deshalb verstand sie nicht, warum ihr Sohn so wütend auf sie war, warum er sie von oben herab anbrüllte. Sie verstand nur, dass er ungebremst die Fäuste auf Eugenes großen Kopf niederprasseln ließ.
Das Einzige, woran sie sich sonst noch erinnerte, war, dass eine zweite Zimmertür aufging, und in der Tür stand der kleine Junge mit dem sorgenvollen Gesicht seiner Großmutter.
Sein Gesicht war nass vor Enttäuschung. Seine Schlafanzughose war dunkel von Pisse.“(350)
Man muss bereits als Publikumsmitglied des Öfteren tiefer durchatmen, um diese Geschichte zu überstehen.
Die Tatsache, dass sie starke autobiografische Züge hat und auf Stuarts eigener Jugend basiert, macht die emotionale Rezeption nicht gerade einfacher – doch umso beeindruckender.
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Shuggies Leben ist ein Spießrutenlauf. Obwohl täuschende Hoffnungsfetzen in Agnes‘ trockenen Zeiten vorkommen, ist ihr krasser körperlicher Zerfall nicht zu übersehen.
Dazu kommt die zunehmende physische Erniedrigung, wenn sowohl Agnes als auch Shuggie in der Aufmerksamkeit anderer Männer nach Spuren von Liebe suchen.
Aus solcherlei Episoden setzt sich Shuggies Kindheit und Jugend zusammen – zu Beginn noch mit der gesamten Familie, bis alle anderen die Mutter verlassen.
Die emotionale Wucht seiner desolaten Existenz und das graduelle Entsetzen neuer Enttäuschungen kontert Shuggie mit Humor, Charisma, einem großen Herz und einem unergründlichen Optimismus – sodass man als Leser:in gerade so und nur dank ihm den Weg durch diesen großartigen Roman schafft, ohne die gesamte Packung Taschentücher zu verbrauchen.
Voller Liebe und Hoffnung trägt Shuggie seine Mutter auf seinen zarten Schultern und bewahrt seine innere Stärke. Er frisiert und kleidet sie, achtet auf Laufmaschen in der Strumpfhose, bügelt seine eigenen Hosen und nimmt Stunde für Stunde den Alltag auf sich. Und doch reicht seine Kraft am Ende nicht für zwei aus, um diese trostlose Existenz fortzusetzen.
Ich verbleibe voller Bewunderung für seine Resilienz und seinen Optimismus und atme weiterhin etwas tiefer, um die eigene Balance zu bewahren.
Danke, Shuggie.
Eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die eine solche Wucht ertragen können.
Auf Deine Gedanken zum Thema schwere Kost, ergreifende Familiengeschichten und „Shuggie Bain“ freue ich mich nun sehr in den Kommentaren.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Shuggie Bain
Autor:in: Douglas Stuart
Übs.:in: Sophie Zeitz
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Verlag: Hanser Berlin
ISBN: ISBN 978-3-446-27108-1
Zitat im Vorschautext von S. 386.
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Mehr zum Thema:
Dlf Kultur: Riesenerfolg für einen Debütroman
Tagesspiegel: Neunzig Minuten Hass
The Irish Times. Douglas Stuart on writing Shuggie Bain: ‚It was a difficult process‘
Rezension zu „Shuggie Bain“ bei Emerald Notes
Rezension zu „Shuggie Bain“ bei Nettebuecherkiste
Mehr literarische Abenteuer:
Literarische Abenteuer. Patrícia Melo: „Gestapelte Frauen“
Literarische Abenteuer. Colson Whitehead: „Die Nickel Boys“
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Deine äußerst gelungene Besprechung holt mich voll ab. Und da ich den Titel bis dato überhaupt nicht auf dem Schirm hatte (allein vom historischen Kontext und den Setting ein Muss für mich), möchte ich vielmals Danke sagen. Das kommt gleich auf den Merkzettel.
LG
Stefan
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Danke dir sehr für diese Resonanz!
Übrigens haben wir einen gemeinsamen Freund, Herrn Heiko P. hat mir übers Wochenende ein paar lustige Geschichten erzählt 😃
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Ach nein, wie geil ist das denn? – Dann kann ich nur sagen: Heikos Freunde (einen lieberen, feineren Kerl habe ich selten getroffen) sind auch die meinen! Und sage auch prophylaktisch schon mal Entschuldigung, für alles was er erzählt hat. Was immer es war, er hat sicher maßlos übertrieben. 😀
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Vielen Dank fürs Verlinken! Die Dialoge im Original sind ja in schottischem Dialekt verfasst, konnte die Übersetzerin das irgendwie rüberbringen? Interessiert mich immer, wie Übersetzer*innen mit sowas umgehen.
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Sehr gerne! Ich fand die Dialoge sehr gelungen, sie sind mir sofort positiv aufgefallen, da atmosphärisch angepasst doch nicht übertrieben.
Allerdings ist hier die Perspektivierung meiner Bewertung nochmal schwieriger: Ich kenne schottische und englische Dialekte aus zahlreichen Filmen und Serien und habe im Englischen Muttersprachlerniveau – kann allerdings als Nichtdeutsche weniger über die konkrete Verdeutschung des ganzen aussagen. 😀
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Das klingt jedenfalls gut. Ich habe das englische Hörbuch gehört, mein Ohr ist auch recht gut auf schottische Dialekte getuned (habe mal 6 Monate in Edinburgh gewohnt), stelle mir es aber sehr schwierig vor, das zu transportieren. Vielleicht schaue ich mal in die deutsche Leseprobe. 🙂
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