Der Philosoph, Romancier und Dramaturg Albert Camus (1913–1960) ist einer der bekanntesten und bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Für sein Gesamtwerk erhielt er 1957 den Nobelpreis für Literatur. Camus‘ philosophisches und belletristisches Werk wird stark vom Absurden geprägt und ist von fatalistischen sowie existenzialistischen Zügen durchwoben.
Camus‘ letzter vollendete Roman „Der Fall“ ist vor Kurzem in neuer Übersetzung erschienen. Der Roman gehört zu den wichtigsten Texten des französischen Existenzialismus – und sei, so Camus‘ Zeitgenosse Jean-Paul Sartre, „Der vielleicht schönste und am wenigsten verstandene seiner Romane“.
Ob dies bedeutet, dass „Der Fall“ nicht für einen Einstieg ins Gesamtwerk geeignet ist? Das würde ich meinerseits mit einem lautstarken „Jain“ beantworten.

Zunächst zugegeben: Albert Camus‘ letzter vollendeter Roman „Der Fall“, übersetzt von Grete Osterwald, würde sich als Text ohne Kontext wirklich nur schwer erschließen.
Ohne das gehaltvolle Nachwort der vorliegenden Ausgabe kann die Geschichte als Geständnis eines reumütigen Anwalts gelesen werden, der im Versuch, seine Schuld zu bearbeiten, kläglich scheitert.
Doch ist diese Handlung bei Weitem nicht die einzige Interpretationsebene, die sich in dem auf den ersten Blick etwas abstrakten Monolog verbirgt.
Im Amsterdamer Hafenviertel gesellt sich der Protagonist Jean-Baptiste Clamence zu einer zweiten, namenlosen, ebenso aus Paris stammenden Figur, der er seine Freundschaft und seine Dienste anbieten möchte.
Es beginnt ein Monolog, in dem der bereits im Anklang hochgradig unzuverlässig auftretende und generell ambivalent anmutende Clamence die Gründe seiner gegenwärtigen Unterkunft und Position in Amsterdam ausführt, die Vergangenheit als angesehener Anwalt, als selbsternannter ‚Bußrichter‘, erörtert – und schließlich eine fatale Schuld offenbart, die auf ihm selbst lastet.
Ist er sich dieser Schuld jedoch wirklich in Gänze bewusst, oder belächelt er seine Last nur? Wie ist der Vorfall zu deuten?
Worin liegt der existenzialistische Kern des Nachhalls seiner Entscheidung – und was hat das Ganze mit seinem Gesprächspartner zu tun?
Der Protagonist schildert sein Leben und seinen Werdegang in puncto Liebe, Freundschaft, Erfolg, Position, Geld, Habgier, Tod – und vieles mehr. Clamence schätzt sich offenkundig und mit Genugtuung als eine moralisch ambivalente und von seinen Rechten mehr als überzeugte, egozentrische Figur ein.
„Ich hatte natürlich Prinzipien, zum Beispiel, dass die Frau
eines Freundes heilig sei. Nur hörte ich, in aller Ehrlichkeit,
wohlgemerkt, ein paar Tage vorher auf, Freundschaft
für den Ehemann zu hegen.“(45)
Der zunächst enorm selbstgefällige Bußrichter verwandelt sich im Laufe der Geschichte allerdings graduell zum Büßer.
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Albert Camus‘ Auseinandersetzung mit dem Christentum (und ferner sein Bekenntnis zum Hellenismus) gehören nicht zu den prominenteren Themenkomplexen des Autors, zu dessen bekanntesten belletristischen Werken die Romane „Der Fremde“ und „Die Pest“ zählen. Camus plante sein Werk als Gesamtes in thematischen Zyklen zu veröffentlichen, die respektive aus einem Roman, einem philosophischen Essay und einen Drama bestehen sollten. (S. 111) In diesem Zusammenhang sollten zunächst andere Themen im Vorfeld stehen.
So gehört beispielsweise der Roman „Der Fremde“ zum Zyklus des Absurden, „Die Pest“ hingegen zum Zyklus der Revolte. „Der Fall“ ist als Teil des bzw. Übergang zum Zyklus der Nemesis von Erzählung zum Roman erwachsen und versteht sich auch als argumentative ‚Grauzone‘ zwischen Zyklen.
Der Protagonist lädt seinen Gesprächspartner nicht nur zum Trinken in der Bar Mexico City ein, wo wir die beiden zum ersten Mal treffen, sondern schlendert mit ihm durch die Straßen von Amsterdam, unternimmt mit ihm gemeinsam eine Schiffsfahrt – und empfängt ihn am eigenen Krankenbett.
„Daher fahren wir ohne jeden Anhaltspunkt,
können unsere Geschwindigkeit nicht abschätzen.
Wir bewegen uns voran, und nichts ändert sich.
Das ist keine Schifffahrt, sondern ein Traum.“(73)
Auf den zweiten Blick muten die – sehr flüssig und angenehm übersetzten – Passagen zunehmend mehrdeutig an: sowohl die Fahrt auf Schiffsdeck durch Nebel und Nacht als auch das einsame Spazieren auf abendlichen Straßen scheinen auf einen allegorischen Weg zu deuten, den Lesende mit dem Protagonisten gemeinsam gehen.
Allmählich verblasst die zweite Figur in Gänze, und der Protagonist scheint immer direkter zum lesenden Publikum – und zeitgleich oder alternativ zu sich selbst, zu einem argumentativen Spiegel – zu sprechen.
Wo eine bloße Beurteilung der Handlung, der Figur und des Geschehenen uneingeweihte Lesende gegebenenfalls mit vielen offenen Fragen hinterlässt, fängt das Nachwort der Literaturkritikerin Iris Radisch sie wieder auf und ergänzt sowohl die chronologische als auch die thematische Position von „Der Fall“ im hochgradig komplexen Gesamtwerk Camus‘.
Im Zusammenspiel von Radisch‘ Nachwort und dem Text an sich erschließen sich viele übergreifende Themen im Gesamtwerk, mögliche Interpretationen für die stillschweigende Figur, zu der Clamence spricht – und die spannende Entstehungsgeschichte der zunächst gar nicht als Roman geplanten Erzählung.
„[…] denn der Fall ereignet sich im Morgengrauen […].“(108)
Interessant wäre noch zu erwähnen, dass der Titel in Berücksichtigung des Originaltitels „La Chute“ nicht bloß „Der Fall“, sondern auch „Der Sündenfall“ heißen könnte – eine deutliche Färbung der im Deutschen recht interpretationsoffen gewählten Übersetzung.
Philosophisch interessierten Lesenden könnte dieses Spätwerk von Albert Camus als literarischer Einstieg also zwar gelingen, sofern die vorliegende Ausgabe gewählt wurde.
Doch würde ich meinerseits dennoch empfehlen, beim Frühwerk zu beginnen und etwas gezielter vorzugehen – ein Autor, der sein Gesamtwerk so sorgfältig plante, verdient meines Erachtens eine ebenso sorgfältige Rezeption.
Wer jedoch mit dem Werk des Autors bereits bekannt ist, wird hier eine genussvolle, vielfältige, faszinierende Geschichte vorfinden, die es viele Male zu lesen und immer wieder neu zu rezipieren gilt.
Dies bezieht sich sowohl auf die Lektüre von Camus‘ Romanen als auch seinen philosophischen Texten. Wie oben bereits erörtert wurde, bestehen viele Bindungen, Verknüpfungen und Hinweise zwischen den Texten, und jede Entdeckung lädt auf eine literarische Weiterreise ein.
Meinerseits hat sich die Fahrt bisher mehr als gelohnt.
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Bibliografie:
Titel: Der Fall
Originaltitel: La Chute
Autor*in: Albert Camus
Übs.*in: Grete Osterwald
128 Seiten | 24,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 18.04.2023
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00130-8
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Kategorien:Klassiker, Neuerscheinungen

Ich bin seinerzeit nicht über „Die Pest“ und „Der Fremde“ hinausgekommen. Trotz der Tatsache, dass mir beide Bücher ausnehmend gut gefallen haben, habe ich danach beschlossen, es mit Camus erst mal gut sein zu lassen. Vielleicht steige ich mit „Der Fall“ wieder ein …
Darüber hinaus habe ich mittlerweile – auf deine Anregung hin – „Wolkenkuckucksland“ von Anthony Doerr gelesen und kann mich für diesen Tipp nur ausdrücklich und herzlich bedanken. 🙂
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Ich finde Camus auch recht speziell, mir gefallen seine Themen, seine Gedanken, seine Art, diese auszuführen – doch sicherlich gibt es viele, die es nicht anspricht. „Der Fall“ ist vom Stil her definitiv um einiges affektiver als „Der Fremde“, meines Erachtens, falls das zur Einschätzung hilft. Ich würde es aber schon wegen des Nachworts empfehlen. 🙂
Oh, wie schön, das freut mich sehr! Ich bin auch immer noch sehr begeistert von dem Roman. 🙂
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