Der ungarische Schriftsteller und Herausgeber Zsigmond Móricz (1879–1942) ist der wichtigste und der erste wahre Vertreter des ungarischen Realismus. Zu Lebzeiten hat Móricz national großen Erfolg erfahren und über dreißig Romane, Erzählbände und Theaterstücke verfasst. In jüngeren Jahren sind seine Romane „Herr Bovary“ (1999) „Niemandsblume“ (2006) hierzulande neu veröffentlicht worden, doch ist Móricz im deutschsprachigen Raum weitestgehend in Vergessenheit geraten.
Die neueste Neuveröffentlichung „Der glückliche Mensch“ ist ein sozialkritischer Roman über ländliche Armut und brutale soziale Not; ein moralphilosophischer Text über Ungerechtigkeit, das Gute und das Böse im Menschen – und vor allem eine faszinierende Geschichte über die bewundernswerte Fähigkeit eines Menschen, trotz allem standhaft und mit Freude dem nächsten Sonnenaufgang entgegenzublicken.

Zsigmond Móricz‘ Roman „Der glückliche Mensch“, aus dem Ungarischen übersetzt von Timea Tankó, handelt vom täglichen Kampf und der bewundernswerten Resilienz des ungarischen Bauernvolkes inmitten von größter Armut und täglicher Ausbeutung.
Móricz malt seinen Protagonisten György Joó in intensiven und realistischen Tönen aus.
Der junge Bauer, der bereits im zarten Alter für sich und seine Mutter sorgen muss und genauso pflichtbewusst wie schelmenhaft ist, erntet in gleichen Maßen Sympathie und Antipathie.
Wer ist aber der eigentliche Protagonist dieses Romans?
Die Entscheidung zwischen Figur und Kulisse fällt nämlich enorm schwer: Móricz hat beide Aspekte seiner Erzählwelt fesselnd und detailreich ausgestattet. Der Autor beschrieb das Buch als „kein Roman, es ist die Realität“. Einer seiner Cousins habe Móricz nämlich „sein Leben erzählt“, welches er dann zum „Bild des ungarischen Dorfs erweitert“ habe. (S. 496)
„Plötzlich verblassten all die dem Spiel der Fantasie und
zumeist unfruchtbaren Träumereien entsprungenen Werke.
Hier stand ein Stück Leben vor mir.“(9)
In einunddreißig Gesprächen erzählt der Bauer seinem ‚Vetter Zsigmond‘ sein gesamtes Leben von Kindheit zur Jugend – bis zum Mannesalter. Móricz betitelt die Kapitel nummeriert als „erstes Gespräch“ et cetera, versieht diese jedoch mit philosophischen Einordnungen in den Untertiteln, beispielsweise: „Vierzehntes Gespräch. Darüber, dass jeder so lebt, wie er kann, nicht, wie er möchte“ (S. 173).
Wer ist dieser im Titel beworbene glückliche Mensch, was macht den ungarischen Bauer im Äußeren und im Inneren aus – und warum sollte ein in Armut gefangener Kleinbauer inmitten der harten Kämpfe, die er täglich zu leisten hat, überhaupt Glück empfinden, wenn seine Situation vollständig aussichtslos ist?
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Zunächst erscheint die für Romane des 20. Jahrhunderts typische Rahmenhandlung etwas konstruiert, ihr Sinn ergibt sich jedoch in einer Nachreflexion.
György Joó ist ein Kleinbauer aus der Gegend Tiszahát in Szabolcs-Szatmár-Bereg in Ost-Ungarn und erzählt in entsprechender Manier. Familie, Liebe, Geld und Gesellschaft, die Arbeit, die Menschen und das Leben – György betrachtet sein Umfeld auf eine nachvollziehbar und authentisch simple Art und Weise. Über die Vermittlung und Verarbeitung des Herausgebers werden die Beschreibungen allerdings in einen breiteren, allgemeinmenschlichen Rahmen eingebettet und tiefgründiger reflektiert – während die Sprache selbst durchgehend schlicht bleibt, wie sie aus dem Munde eines zeitgenössischen Landwirtes eben auch üblicherweise zu erklingen hat.
Auf stilistischer Ebene sowie inhaltlich also Realismus vom feinsten.
Es sind im Nachhall jedoch just die Untertitel, die die Thematik der jeweiligen Gespräche mit einer grüblerischen Tonalität untermalen und ihnen moralische, philosophische und ethische Kontexte hinzufügen, über die auch ein Stadtmensch im 21. Jahrhundert zu reflektieren vermag.
„Nun ist alle Herrschaft im Dorf gegen dich.
Keinem von ihnen habe ich etwas getan,
und trotzdem wollen sie alle über mich herfallen.
Aber warum bloß? […]
Weil ich nicht vor ihnen katzbuckeln will.“(99)
György wächst als trotziger Jugendlicher auf, der zwar keine beachtliche Schulbildung erhält oder in puncto gesellschaftliche Brennpunkte oder Politik oder Geschichte unterrichtet wird – doch wird ihm sehr schnell klar, dass seine Position als Kleinbauer weder vorteilhaft noch besonders komfortabel ist.
Während der Protagonist als Kind und Jugendlicher noch den Herrschaften, die in der Hackordnung weit über ihm stehen, Contra gibt, gefährdet er mit seinem Verhalten das wenige Hab und Gut, welches der verwitweten Mutter und dem einzig daheim gebliebenen Sohn noch geblieben ist. So lernt György auf die harte Tour, seinen Platz demütig zu behalten – und denjenigen, die mehr als er besitzen, statt Protesten Verbeugungen zukommen zu lassen.
„Ganz gleich wohin du gehst, die Herren
werden dich immer in der Hand haben.“(131)
Die Perspektive des Protagonisten wird durch Betrachtungen seiner Mutter, die im Roman durchgehend eine tragende Rolle spielt und des Öfteren zu Wort kommt, erheblich vervielfältigt. Móricz lässt Lesende überdies auf Györgys Geschwister blicken, die in anderen Dörfern vergleichsweise weit größeres Elend zu ertragen haben, und gewährt einen Einblick in die Ehe von Györgys Eltern – deren Schicksal ebenso alles andere als rosig war.
Zudem werden zahlreiche soziokulturelle Kleinigkeiten in die meisten Schilderungen eingestreut. Über diverse – zu erwartende – landwirtschaftliche Informationsfragmente hinaus erfahren wir, dass es beim Gottesdienst eine sehr strenge Sitzordnung gibt; dass ein junger Mann in einem gewissen Alter zu heiraten hat; welche Rechte und Pflichten für den Besitz oder Nießbrauch unterschiedlicher Ländereien entstehen; wie Männer unterschiedlichen Reichtums um eine Ehefrau zu werben haben – und enorm viel mehr.
In diesen reichlichen Kleinigkeiten – einige kurios, einige selbstverständlich, alle interessant – geht ein entdeckungsfreudiges Lesendenherz schnell auf.
Obwohl der junge György fast täglich Enttäuschungen und Schicksalsschläge erleiden muss: seien es die Mädchen, unter deren die Richtige sich einfach nicht zeigen möchte, so viele Tanzveranstaltungen, Dörfer und Häuser der Jugendliche auch besuchen und Maiden er auch küssen mag; seien es die ewigen Verhandlungen mit Großbauern oder Handwerkern, die zu wenig zahlen, bei jedem Kauf oder Verkauf betrügen wollen – oder gar die Herren, die überhaupt nichts von ihm als Mensch halten und dies mit jeder Geste zeigen.
Trotz der zahlreichen Hiebe und Schläge, die György täglich einstecken muss, schafft er es, ein pflichtbewusster Arbeiter, ein (für die Verhältnisse seiner Zeit und Lage… *hust hust*) charmanter Kavalier und ein seine Mutter liebender Sohn zu bleiben.
Schließlich liegt der Kern von Móricz‘ Roman nämlich just im Titel „Der Glückliche Mensch“ – denn inmitten seiner Armut, fehlender Zukunftsperspektiven und wachsendem Elend schafft György es wie unendlich viele andere, denen es noch wesentlich erbärmlicher geht, sich auf den nächsten Sonnenaufgang zu freuen.
Und dies mit Humor und Lebenslust, die den auf Arbeitssuche durch die Dörfer streunenden, stets galanten und korrekten, doch auf seine bauernhafte Art objektiv immer etwas rüpelhaften György als eine ländliche Variante des Ritters Don Quijote erscheinen lassen. Györgys regelmäßige Tagträumereien bekräftigen diesen Eindruck nur – auch ihm erscheinen ab und zu Dinge, die es in der empirischen Realität so nie gegeben hat.
„Der Glückliche Mensch“ ist ein enorm umfangreiches Panorama, welches mich an estnische Klassiker wie „Wahrheit und Recht“ von Anton Hansen Tammsaare oder „Nippernaht und die Jahreszeiten“ von August Gailit erinnerten. Ähnliche Schilderungen aus der Bauernwelt und Jedermann-Protagonisten sind ebenso aus den skandinavischen Raum bekannt. Wer bereits etwas in der Art gelesen hat und sich nicht für die Feinheiten der ungarischen Geschichte per se interessiert, würde hier auf eine unter Umständen etwas langatmige Lektüre treffen, die mensch schon in der einen oder anderen Form erfahren hat.
Wer sich allerdings für den Realismus und für vielfältige, humoristisch-kritische Landesgeschichten mit viel Liebe fürs Detail begeistert, wird in Zsigmond Móricz‘ „Der glückliche Mensch“ einen definitiven Lesegenuss vorfinden.
Meinerseits ist der Roman daher ein Lektüreerlebnis mit viel Gewinn und Mehrwert.
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Bibliografie:
Titel: Der glückliche Mensch
Originaltitel: A boldog ember
Autor*in: Zsigmond Móricz
Übs.*in: Timea Tankó
480 Seiten | 27,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 28.02.2023
Verlag: Guggolz
ISBN: 9783945370407
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