Deutscher Autor und Jurist Bernhard Schlink hat seinen schriftstellerischen Weltruhm mit dem Roman „Der Vorleser“ begründet, der in über 50 Sprachen übersetzt und in 2009 verfilmt wurde.
Kann Bernhard Schlinks neuester Roman „Die Enkelin“ als Nachfolger des Weltbestsellers gelesen werden – und wieso ist die neutralste Instanz der Erzählung zeitgleich hochproblematisch?

Bernhard Schlinks neuester Roman „Die Enkelin“ ist ein Portrait gespaltener Länder, gespaltener Familien und gespaltener Personen.
Die Handlung des Romans spielt parallel in den 1960er und 2000er Jahren, einerseits zwischen den politischen Instanzen DDR und BRD; andererseits zwischen zwei im Konflikt stehenden politischen Ideologien in einem wieder vereinten Deutschland.
Was „Die Enkelin“ auf den ersten Blick so faszinierend macht, ist die Divergenz von Erzählperspektiven im Roman.
Nach dem Tod seiner Frau Birgit beginnt der Buchhändler Kaspar den letzten Gedanken, Worten und Aufzeichnungen seiner Geliebten nachzugehen.
Birgit verfolgte neben zahlreichen Berufen, Ausbildungen und Hobbys durchgehend die Beschäftigung als Schriftstellerin, und so findet Kasper in ihrem Schreibtisch ein Memoir, welches ihm das unerwartet tragische Doppelleben seiner Ehefrau und die Konsequenzen dieses Lebens offenbart.
„Als ich den Trabi wegfahren hörte, war ich erlöst. Ich hatte ausgestoßen, was in mir gewachsen war, und war es losgeworden. Ich war leer, ich war leicht.“(96)
Trotz der Enttäuschungen und Verrate, die Kaspar nun am Gelesenen verdeutlicht werden, entscheidet er sich, diese Konsequenzen zu tragen, Birgits verschollene Tochter Svenja aufzusuchen und die im Memoir an ihre Person gebundenen Hoffnungen der Versöhnung zu erfüllen.
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Bernhard Schlink hat eine beeindruckend bedächtige Art zu schreiben: der Roman zeugt von emotionaler Überlegung, behält stets ein ruhiges Tempo bei – gleichzeitig werden die Protagonisten, so Kaspar während der Rahmenhandlung und Birgit in ihrem äußerst tumultuösen Leben, vor sehr intensive Emotionen und Herausforderungen gestellt.
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Und doch bleibt man als Leser:in dem Protagonisten treu und verfolgt Birgits Autobiografie mit einem sorgsamen Gedanken, was der arme Witwer nun denken wird, sobald die Lektüre beendet ist.
Kaspar ist in seiner Funktion als Held, Retter und ewiger Gute sowohl sympathisch als auch unsympathisch: Er hat anscheinend gar kein Rückgrat, keine eigene Persönlichkeit, passt seine Ziele nur seinen Mitspieler:innen an und macht grundsätzlich kaum etwas, was man sein eigen nennen kann.
Der Protagonist und ‚Held‘ dieses Romans ist im Grunde genommen nur ein Betrachter: an keiner Stelle geht es wirklich um sein Leben, sein Schicksal oder seine Vergangenheit. Zum Ende der Erzählung entpuppt Kaspar sich als argumentativ unwichtigste Instanz in der gesamten Handlung – bis er sich wiederum als verbindendes Element zwischen allen Figuren festigt.
Andererseits ist er ein altruistischer Protagonist, der alles in seiner Macht tut, zuerst Birgit, danach seine Enkelin, aus den Klauen absolutistischer Regimes zu befreien. Ebenso fungiert Kaspar als neutraler Erzähler – eine Figur, die in Neuerscheinungen der letzten Jahre nur in seltenen Fällen anzutreffen war.
Auch dies ist eine Entscheidung, die Schlinks Roman eine gewisse Reife verleiht. (Dass es sich hier um seinen zehnten Roman handelt, verhilft sicherlich ebenso dazu, ein kompositorisches und erzählerisches Meisterwerk verfassen zu können.)
Der erste Handlungsbogen, bestehend aus Kaspars und Birgits Perspektiven, schildert ihre Flucht aus der DDR, die Anpassung als Geflohene, die Unterschiede und die Positionierung als ewige Fremde unter Westdeutschen, gerade im universitären Bereich. Die Schilderung offenbart soziopolitische Probleme und Unterschiede in der Mentalität, Bildung und allgemeiner Welthaltung, die für Ost- und Westdeutsche unterschiedlicher nicht sein kann.
Schlink zeigt ebenso geduldig und ruhig, wie die Bevölkerung desselben Landes sich in zwei vollständig unterschiedliche Personengruppen verwandelt hatte, und dass diese in vielerlei Hinsicht auch nach dem Mauerfall nie wieder zueinander finden konnten.
Dieser Erzählung hinter der Erzählung liegt eine reflexive Trauer inne, die auch an den Ton von „Der Vorleser“ erinnert.
Des Weiteren macht Kasper sich auf die Suche nach seiner Stiefenkelin Sigrun, die er in einer recht unerwarteten Position wiederfindet, und sich – erneut – für eine Rettungsmission rüstet, denn Sigrun befindet sich, um den Inhalt der Handlung an dieser Stelle nicht vollständig zu verraten, in prekären Umständen, auf einem völkischen Bauernhof.
„Sie wollte raus. Solange sie rauswollte, wollte er hoffen.“(304)
Es ist ebenso beeindruckend zu beobachten, wie der Stiefgroßvater seiner Enkelin schrittweise normale Realitäten wahrzumachen versucht, und zeitgleich ihre radikal-ideologischen Positionen hört, zumindest in einer rationalen Kapazität respektiert, und sie dann auf Augenhöhe wieder zurück in die Sphäre der Wahrheit zu holen versucht.
Bernhard Schlinks Roman spiegelt brennend aktuelle innenpolitische Konflikte und Realitäten in Deutschland. Er entwirft das Sinnbild eines hoffnungsvollen Großvaters, der seinen Enkeln mit Ruhe und Geduld zu erklären versucht, warum der Wert eines Menschen nicht an gewisse Nationalitäten gebunden ist, und warum man nicht stolz darauf, deutsch, sondern ein guter Mensch zu sein, sollte.
Dieses humanistische Sinnbild an sich – und eine gnadenlose Allegorie, in der die humanistische Retterfigur von beiden ideologischen Polen nur radikale Gewalt erfährt – ist ebenso mit einer unglaublichen Trauer gefüllt und führt inhaltlich die in „Der Vorleser“ begonnene Reflexion über Schuld, Sühne und Erinnerungskultur für unsere unmittelbare Gegenwart fort.
Bedenklich und beunruhigend ist die von Schlink beschriebene Realität.
Meisterhaft sind die kompositorische und inhaltliche Umsetzung der Figurenebenen, die facettierten Figurendynamiken und die gesamte Behandlung einer unglaublich nuancierten Thematik.
Ein reichhaltiger, großer Gesellschaftsroman, den ich uneingeschränkt und mit Nachdruck empfehlen kann.
Hier geht’s zur Leseprobe. (Link zur Verlagsseite)
Bibliografie:
Titel: Die Enkelin
Autor:in: Bernhard Schlink
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 27.10.2021
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07181-8
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Kaspar war mir eigentlich nicht unsympathisch. Das Buch zeichnet sich meines Erachtens durch einen resignierten Unterton aus – die Sprachlosigkeit ist offenkund. Der Roman hat viele Saiten in mir zum Schwingen gebracht, unfreiwillig, hilflose, sprachlose Gesten. Vielleicht, wenn mir etwas fehlte, dann die lyrische Verzweiflung ob einer Welt mit so vielen Problemen, die wenigstens diese überflüssigen überwinden könnte. Schöne Rezension!
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Danke vielmals! Es war auch für mich schließlich nicht nur Kaspars, sondern die allgemeine der Erzählwelt – unserer Welt – verbleibende Sprach- und Hilflosigkeit, die noch lange nachhallen wird. ♥
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