Der polnische Starautor Szczepan Twardoch gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen seines Landes und genießt auch in Deutschland bereits den Status eines herausragenden Autors. Der Durchbruch gelang 2012 mit dem Roman „Morphin“, zuletzt erschien der Roman „Demut“. Twardoch schreibt über Warschau, Berlin und Oberschlesien; vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine Romane besitzen eine packende Intensität.
Kommen in Twardochs Roman „Der Boxer“ wirklich nur böse Menschen vor – und warum schwebt da ein Pottwal über der polnischen Hauptstadt?

Szczepan Twardochs Erzählwelten sind voller Blut, Gewalt, Testosteron und Erbarmungslosigkeit.
Literarisch blüht der Autor in den Weltkriegszeiten auf – seine Werke vereinen aufs feinste Detail ausgearbeitete polithistorische Landschaften mit düster getönten Einzelschicksalen.
Spannenderweise besitzt der schlesische Autor selbst keine jüdischen Wurzeln, was Erfahrungsgemäß recht ungewöhnlich für die Auseinandersetzung mit seinen Figuren und Erzählwelten erscheint –
umso mehr ist „Der Boxer“ hinsichtlich der Ausführung seiner individuellen Figuren und vorrangig des Erzählers Mojzesz Bernstein sowie Protagonisten Jakub Shapiro zu loben.
„Der Boxer“ erschien im polnischen Original unter dem Titel „Król“ – „König“. Als solcher ist Shapiro im jüdischen Warschau de facto auch zu bezeichnen. Der Boxer fungiert allerdings als erster Vertrauter des „Paten“ Jan Kaplica, des mächtigen Herrschers der Unterwelt, für den Shapiro Schutzgelder eintreibt.
Auf Anhieb kommt eine Wucht an Brutalität auf Lesende zu, diese wird gemischt mit der Verherrlichung reiner Männlichkeit: in einer szenischen Karambolage schildert das höchst eindrucksstarke Kapitel eins, „Alef“ / א, Shapiros Triumph im Ring im Wechsel mit der Ermordung und Zerstückelung eines Schuldners.
So ist eben das Leben im jüdischen Warschau in 1937: wer nicht zahlt, muss dran glauben.
„Er rasierte sich und suchte in seinem Spiegelgesicht nach
Spuren all jener Menschen, die er umgebracht hatte.
Er fand keine.„(373)
Mojzesz Bernstein, der Sohn eines solchen Schuldners, der unter Shapiros Fittiche kommt und im Laufe des Romans eine ungewöhnliche Beziehung zu ihm führt, ist auch als ungewöhnlicher Erzähler zu bezeichnen.
Obwohl erst im letzten Viertel offenbart wird, was tatsächlich zwischen den Figuren passiert ist und warum die Erzählperspektive einen fatalen Fehler beinhaltet, hat Twardoch einen Hinweis auf die vollständige Kehrtwendung bereits auf Seite eins eingebettet.
„Alle Menschen sind gleich, werte Dame. […] Es gibt keine guten
Menschen. Nur böse. Alle sind böse. Auch Sie sind sehr böse.“(389)
Twardoch wurde für den Roman eine Verherrlichung von Männlichkeit und standardisierte Misogynie vorgeworfen, seine Frauenfiguren wurden als langweilig bezeichnet. Aus meiner Sicht sind alle in „Der Boxer“ vorkommende Figuren auf ihrem Platz und in ihrer Wechselwirkung auf eine angemessene Art und Weise positioniert. Zudem muss man bedenken, wer und in welchem Kontext die Geschichte erzählt.
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Eher ist es dem Autoren anzurechnen, dass die meistens ausweglose Situation der Frauen, die gezwungene Berufswahl als Prostituierte und die Beziehungen mit und zu Männern zwischen Leidenschaft und Verachtung – aus meiner Sicht – realistisch beschrieben worden sind.
Aus der Perspektive eines männlichen Unterwelthelden erscheinen weibliche Personen ausschließlich zur Ergänzung des Mannes – sei es, um seinem häuslichen Glück, seiner zertrümmerten Seele oder seinem steifen Glied zu dienen.
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Insofern soll denjenigen, die dies bisher noch nicht erkannt haben, klar sein, dass Twardochs Werke harter Tobak sind und weder Liebesgeschichten noch Helden in sich tragen. Auch die stärksten in diesem ewigen Spiel um Leben und Tod verlieren Arme, Beine, Augen, Zähne – und ihr Leben.
Faszinierend und detailgetreu sind allerdings die Szenen, die Fakten und vor allem die komplexe, die Handlung dennoch nicht übermannende politische Kulisse des Romans. Szczepan Twardoch hat unermüdlich Recherche betrieben und authentische Erzählwelten erschaffen.
Historische Entwicklungen auf der politischen Bühne, wie die Gründung der des Nationalradikalen Lagers ONR und der Falanga; die entsetzlichen Detailbeschreibungen der 1934 in Ostpolen eingerichteten Isolierhaftanstalt Bereza Kartuska (die laut Übersetzer von Nationalisten wohlwollend als KZ bezeichnet wurde); die universitäre Situation und das für jüdische Studenten eingerichtete „Hörsaal-Ghetto“; die zahlreichen Aufstände, Kollisionen und Kämpfe zwischen Juden und nationalistischen Polen – und vieles mehr gilt es hier zu verdauen, erforschen und zu verarbeiten.
Das Nachwort des Übersetzers Olaf Kühl, „Anstelle eines Glossars“, ergänzt diese Aspekte und Verhältnisse auf eine bündige Art und Weise, die Lesenden nach dem Roman kurz zeigt, wie authentisch die Geschichte auf der historischen Ebene tatsächlich ist. Zeitgleich sind die Figuren, die Handlungslinien und die Spannung immer im Vordergrund, sodass auch reine Thriller-Freunde hier auf ihren Genuss kommen, ohne vom politgeschichtlichen Geschehen überfordert zu werden.
Dass es sich allerdings in jeglicher Hinsicht um einen recht komplexen Roman handelt, sollte bisher ebenso deutlich geworden sein.
Überdies werden dem Roman mythische Elemente hinzugefügt, die eher dem magischen Realismus zuzuordnen wären:
„Draußen, über der Nalewki-Straße, schwebte ein grauer Pottwal.
Sein flammendes Auge ruhte auf mir […].
Litani, ich bin Litani. Asche deines Haars, Schulamit.“(132)
Die biblischen Bezüge und Celan-Variationen erscheinen zunächst als willkürlich, fast plakativ.
Interpretativ optimistisch wäre die Zuordnung der (mehreren) kreativen Formulierungen anhand der „Todesfuge“ als Hinweis auf ein blutiges, unglückliches, unausweichliches, stets auf jede:n lauerndes Schicksal in Tod und Fegefeuer zuzuordnen; als die Anwesenheit des Erzählers und des Lesers, die mit Vogelblick erkennen, dass diese Figuren von Qualen und Tod heimgesucht werden – ausnahms- und erbarmungslos.
Als Memento auf das kommende Schicksal, Lamento zur Holocaustgeschichte und Vorblende zu den dem Roman folgenden historischen Ereignissen sitzt die schwarze Milch wiederum im richtigen Glas und passt in die Erzählung sehr gut hinein.
So erblickt zunächst nur Mojzesz den riesigen Wal. Nur aus den Augenwinkeln sieht er ihn. „Seine Augen flammen und dem sich öffnenden Maul entströmt ein leises, rauschendes Lied. Er sieht mich auch […].“ (68)
Litani, als Litanei oder Leviathan zu interpretieren, erscheint aus meiner Sicht recht klar als ein Vorbote des Unvermeidbaren und verkündet, wie an Jona, den Untergang. Im Laufe des Romans ist er immer öfter am Himmel zu erkennen – bis er zu einem beständigen Begleiter wird. Warum nur Mojzesz ihn sichtet, wird zum oben erwähnten plot twist klarer als klar.
Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Hinzugefügt und berücksichtigt sei die biblische Verwobenheit von Mojzesz‘ Innenwelt, seiner stärker empfundenen jüdischen Identität, seinem familiären Milieu welches diese ebenso fördert – und erneut ist die Gefahr des interpretativ Plakativen umgangen worden.
„Der Boxer“ ist ein knallharter Roman voller authentischer Beschreibungen aus der jüdischen Geschichte und aus dem Warschauer Alltag im Jahr 1937. Szczepan Twardoch hat einen handlungsdichten, rasanten, fesselnden Roman verfasst, der mit einer unapologetischen Authentizität gnadenlose Realitäten aus jüngster Geschichte zeigt.
Wen solche Eigenschaften an Büchern ansprechen, dem sei eine Leseempfehlung mit Nachdruck ausgesprochen.
Mit einem Folgebeitrag ist bereits zu rechnen: Erst während der Recherchen zum Autor entdeckte ich, dass der Roman „Das schwarze Königreich“ die Fortsetzung zu „Der Boxer“ ist – denn das Schicksal des (tatsächlichen) Protagonisten bleibt in diesem Roman in vielerlei Hinsicht verhüllt.
Auch diesen Roman von Szczepan Twardoch werde ich mir mit Sicherheit nicht entgehen lassen.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Der Boxer
Autor:in: Szczepan Twardoch
Übs.:in: Olaf Kühl
464Seiten | 12,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 16.04.2019
Verlag: rowohlt
ISBN: 978-3-499-29147-0
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