
US-Amerikanischer Autor Colson Whitehead hat bis dato sieben Romane veröffentlicht. Zudem ist aus seiner Feder diverses an Sachliteratur, Essays und Rezensionen entstanden. Whiteheads Romane begeben sich an reelle Orte der afroamerikanischen Geschichte, die für die Allgemeinheit bisher unentdeckt blieben, und bringen verstörende Wahrzeiten zutage.
Seinen ersten Pulitzer gewann Whitehead 2017 für „Underground Railroad“, nun wurde die Ehre dem Autoren erneut für „Die Nickel Boys“ zuteil. Der zweifache Pulitzer wurde bisher lediglich an drei Autoren verliehen: Booth Tarkington (1919/22), William Faulkner (1955/63) und John Updike (1982/91).1

„Die Nickel Boys“ ist eine grausame, auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte über systemische Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Rassismus und Gewalt.
Geschrieben in einem realistisch-sachlichen Stil und ruhigen Tempo, hält der Roman nicht nur eine Geschichte bereit, die an allen Ecken eines Leserherzen zerrt – am Ende der Erzählung wartet eine Enthüllung, die das Gelesene erneut in ein anderes Licht stellt.
Im ersten Teil des Romans ist die Zukunft noch vielversprechend für den sechzehnjährigen Elwood. Er ist sich seiner Position als afroamerikanischer Mann in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre zwar bewusst, trägt als leidenschaftlicher Hörer und Folger von Martin Luther Kings Reden und Gedanken Hoffnung für eine veränderte, verbesserte Welt in sich.
Obwohl Elwoods Eltern ihn als Kind verlassen haben, wächst der Junge bei seiner Großmutter in liebevollen Familienverhältnissen auf. Sein Lieblingslehrer, ein Bürgerrechtsaktivist, gibt seinem Schüler den Mut, an seiner ersten Demonstration teilzunehmen und sichert ihm sogar ein Stipendium an einem College.
Doch auf der Fahrt dorthin wird Elwood irrtümlicherweise als Mittäter verhaftet, da er sich per Anhalter unwissend in einem gestohlenen Fahrzeug mitnehmen lässt, und landet in einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter.
Whiteheads Roman verläuft eng an historischen Tatsachen: 2014 wurden im Laufe einer Immobilienneuplanung bei einer geschlossenen Institution in Florida im Boden unter einem naheliegenden Feld verscharrte Leichen entdeckt, die von jahrzehntelang begangenen und ebenso lange beschwiegenen Verbrechen zeugten.
Trotz Berichte Überlebender (bereits während seiner Haft versucht auch Elwood ohne Erfolg die Öffentlichkeit über die Situation im Nickel zu unterrichten) wurde die Geschichte der Anstalt einfach unter den Teppich – nein, wortwörtlich unter die Erde gekehrt. Im kurzen, wirkungsvollen ersten Satz weist Whitehead sehr konkret auf die Sachlage und hin:
„Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.“
Eingeschlagene Schädel, Brustkörbe voller Schrotkugeln und gebrochene Knochen waren an den ausgegrabenen Leichenresten auffindbar. Die Toten waren heimlich vergraben worden, ohne die Angehörigen zu informieren. Es hieß auf Nachfrage, der Häftling sei geflohen und spurlos verschwunden. In viele Fällen wurden jedoch gar keine Nachfragen gestellt.
Elwoods Ambitionen zur Selbstentfaltung und Gleichberechtigung werden im Nickel sehr plötzlich auf die gegebenen Umstände relativiert. Die Wärter genießen es, seinen Geist und Körper zu erdrücken, zu zerbrechen und auszulöschen. Trotz allem versucht der junge Protagonist, sich auch in diesem Regelfeld zurechtzufinden, hochzuarbeiten und schließlich aus dem Nickel zu entkommen.
Ohne das Ende zu verraten, sollte das bereits im zweiten Teil des Romans ordentlich malträtierten Leserherz sich darauf vorbereiten, dass Whitehead bis zum Schluss – und damit meine ich die letzten Seiten des Romans – damit wartet, die gesamte Wahrheit über Elwood zu offenbaren. Die Überraschung, der Schock und das neue Licht, in dem die Geschichte nun gezeigt wird, sind immens.
„Elwood hielt sich am Kopfende des Bettes fest und biss in das Kissen,
verlor aber das Bewusstsein, bevor die Strafe ganz vollzogen war, sodass er später
keine Antwort auf die Frage nach der Zahl der Hiebe zu geben wusste.“
„Die Nickel Boys“ ist ein erhellender und zugleich verstörender Roman, der sicherlich nicht als letzte Geschichte die zahlreichen verborgenen Verbrechen einer inhumanen Gesellschaft ans Licht bringt. Kompositorische Entscheidungen wie die mit Spannung aufgeladenen Übergänge zwischen den Teilen der Erzählung und vorenthalten von verheerenden Informationen intensivieren den ohnehin tiefen Schnitt in die emotionale Oberhaut.
Umso mehr ist es notwendig, den Mut zur Lektüre von Whiteheads Romanen, zur Bildung über menschliche Brutalität zu besitzen, über die Schicksale der gefolterten Männer zu lesen und die ihnen gemeinsame systemische Unterdrückung zu erkennen, zu verinnerlichen und zu diskutieren.
Meinerseits an dieser Stelle eine dringende Leseempfehlung.
Und nun bin ich gespannt auf Feedback, Input und Ergänzungen.
Hast Du bereits einen Roman von Whitehead gelesen? Welchen seiner Werke findest Du besonders empfehlenswert? Oder haben andere seiner Schreibformate Dich angesprochen?
Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!
Hier geht’s zur Leseprobe.
1 – Übersicht und interessante Fakten zu den Pulitzer-Preisträgern auf Wikipedia
FAZ, Feuilleton, Sandra Kegel: Das Gesetz des Weißen Hauses.
FAZ, Feuilleton, Andreas Platthaus: Der doppelte Pulitzer.
Bibliografie:
Titel: Die Nickel Boys
Autor: Colson Whitehead
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum:
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-26276-8
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Mehr literarische Abenteuer:
Literarische Abenteuer. Yaa Gyasi: „Heimkehren“
Literarische Abenteuer. Sharon Dodua Otoo: „Adas Raum“
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