Systemkritische Trauerspiralen. Jamaica Kincaid: „Mein Bruder“

Antiguanisch-Amerikanische Autorin und Professorin Jamaica Kincaid ist als preisgekrönte Schriftstellerin vor allem für ihre stark autobiographischen Ansätze bekannt. Bereits mit ihrer ersten Erzählung „Girl“ ist sie berühmt geworden – unter anderem, weil diese nur aus einem Satz besteht.

Mein Bruder“ bewegt sich in poetischen Bögen zwischen Memoir, Tagebuch und Roman. Die Autorin verarbeitet darin tragische Ereignisse in der Familie – und die eigene Vergangenheit.


© aki Verlag

Jamaica Kincaids Roman „Mein Bruder“ ist in 1998 in englischer Originalfassung erschienen.

Das Buch wurde zwar als Non-Fiction für den National Book Award nominiert, liest sich dennoch wie ein belletristischer Text.


Das Memoir ist nebst impressionistischen, lyrischen Passagen mit diversen soziokulturellen und systemkritischen Betrachtungen zur antiguanischen Gesellschaft ausgeschmückt.

Leser:innen erleben die Dynamik zwischen Kincaid und ihrem Bruder Devon, der an AIDS gestorben ist – und können nebst der tragischen Krankheitsgeschichte reichhaltige Schilderungen über die restliche Familie und den antiguanischen Alltag schmökern.

Dieses Buch ist trotz der oben genannten Kategorisierung weder als Tagebuch noch Berichterstattung zuzuordnen – schon, weil ihm jegliche inhaltliche, zeitliche oder kausale Struktur fehlt.

Die Handlung dreht sich thematisch vor allem klar um die Krankheit, den Tod und die Trauer um den Bruder.


Jedoch liest man strukturell in einer sich wiederholenden Spirale, da Kincaid immer wieder zum Todespunkt hinaus erzählt – und des Öfteren von gewissen zeitlichen oder logischen Punkten in der eigenen Biografie oder der des Bruders ausgehend erneut beginnt.


Mein Bruder starb, und er starb immer wieder; jedes Mal, wenn ich mich erinnerte,
dass er gestorben war, schien es mir, als wäre er gerade in diesem Augenblick gestorben
und die ganze Erfahrung begänne von vorne […].“(162)


Kincaid schreibt in melodischen, lyrischen Passagen; wiederholt des Öfteren nicht nur Wörter, sondern Nebensätze; kommt nach einigen Seiten immer wieder zu demselben Gedanken und denselben Emotionen zurück.

Dementsprechend würden Liebhaber:innen des Lyrischen aufgrund der – durchaus gelungenen – Nutzung dieser Stilmittel eigentlich direkt einen Anschluss zu Kincaids Text finden.


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Auch die Kulturanthropolog:innen unter uns könnten fündig werden: es ist weniger die individuelle Trauer der Schwester, die ihren Bruder in seiner Jugend kaum zu Gesicht bekommen hat und ihn nun als Patient und Pflegefall neu kennenlernt – als die allgemeinen Umstände seiner Krankheit, die hier kombinatorisch einen starken Effekt erzielen.


Die Beobachtungen aus der Perspektive der Protagonistin bestätigen die ihrem Volk gegenüber formulierte zynische Einschätzung in vollen Zügen. Es ist der kumulative Moment dieser Realisierung, der eine wahrhaft wuchtige Wirkung erzielt.

Aus Kincaids Beschreibungen ergeben sich Sachverhalte wie eine als typisch zu interpretierende Familien- und Gesellschaftsdynamik mit zahlreichen Kindern von unterschiedlichen Eltern; trotz einer zeitgleich Promiskuität ermutigenden Mentalität ausliegende Zwangsjacken gesellschaftlicher Konventionen für queere Männer und Frauen.


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Nicht nur das äußerst zynische Bild des eigenen Volkes als egoistisch und regressiv ist in sehr intensiven Farben gezeichnet.

Vor allem die Beschreibungen der Behandlung des Bruders, Devon, angesichts der Art seiner Krankheit und seiner Todesnahe, hinterlassen schwerwiegende Eindrücke und emotional intensive Spuren.


Wir sind kein instinktiv mitfühlendes Volk; ein Freundeskreis, in dem man einander liebt und stützt, ist etwas, das in den Erinnerungen an meine Kindheit nicht vorkommt.“(49)


Als Liebhaberin von strukturierten, handlungsstarken Texten war ich bei dieser Lektüre hin- und hergerissen. Die gesellschaftskritischen Schilderungen und Aufrufe zur Entstigmatisierung von in hinterwäldlerischen Gemeinden weiterhin herrschenden Tabus waren erhellend; die informative Reichhaltigkeit des Textes nebst Trauerarbeit beeindruckend.

Ebenso beeindruckte mich die starke Stimme der Erzählerin, die zwischen Schuld- und Trauergefühlen eine klare Identität und einen Selbstwert aufgebaut hat – und die parallele äußerst nüchterne Realisierung dessen, dass diese Individualisierung ausschließlich dank der Entfernung von Heimat und Familie stattfinden konnte.


Allerdings dürfte der Text für Freunde von Aussagen konkreter Natur und kohärenten Handlungslinien eine Herausforderung darstellen; da auf eine poetisch-chaotische Art ineinander gewobenen Passagen oft willkürlich erscheinen und narrativ keinen Halt bieten.

Wäre „Mein Bruder“ wenigstens in kürzere Kapitel aufgeteilt, hätte man ihn gezielt in kleinen Portionen genießen können. Nun musste ich das Buch allerdings aufgrund seiner Langatmigkeit des Öfteren beiseite legen.


Alles in allem gilt dennoch: Für diejenigen, die einen poetischen Stil wertschätzen und sich lieber in emotionsintensive Wogen als auf einen handlungsstarken Pfad begeben, liegt hier eine Leseempfehlung vor.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Mein Bruder
Autor:in: Jamaica Kincaid
Übs.:in: Sabine Herting

240 Seiten | 22,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.10.2021
Verlag: aki
ISBN: 978-3-311-35000-2

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