Geboren in Ghana und aufgewachsen in den USA, geht Yaa Gyasi in „Heimkehren“ nicht nur ihren eigenen Wurzeln, sondern der politischen und kulturellen Geschichte von Ghana, den Ursprüngen und Konsequenzen des Sklavenhandelns bis ins 18. Jahrhundert nach. Der Roman behandelt Schwarze Geschichte, Kolonialismus, Rassismus, Identitätsfindung und unsichtbare Spuren der Vorfahren, die tief in der Seele ihrer Kinder hinterlassen werden.
Was macht dieses Buch eigentlich so lesenswert?

Die aus einzelnen Geschichten bestehende Erzählung folgt den Schwestern Effia und Esi, deren Nachkommen auf gegenüberstehenden Seiten des transatlantischen Sklavenhandels positioniert werden.
Die Schwestern lernen einander nie kennen – dennoch bleiben die unsichtbaren familiären Fäden zwischen ihnen bestehen.
Effia heiratet einen weißen Sklavenhändler, Esi hingegen wird als Sklavin nach Amerika verkauft. Jedes Kapitel des Romans verfolgt das Leben eines Nachkommens der beiden Schwestern. Zahlreiche Generationen an Söhnen und Töchtern werden aneinandergereiht, sodass schließlich eine generationenübergreifende Familiengeschichte entsteht.
Gyasi erforscht Jahrhunderte an Schwarzer Historie – beginnend in Ghana über die konfliktreiche Historie der ghanaischen Stämme der Asante* und Fante führt die Erzählung weiter zu den Plantagen der US-Amerikanischen Südstaaten über die Kohleminen in Alabama hin zu den Jazzkellern und Drogenhäusern Harlems.
Jede Generation hat in dieser trostlosen Geschichte ihre Last und Trauer mit sich zu tragen – scheinbar häuft sich nur ständig der kollektive Kummer beider Familienlinien. Obwohl jede Tochter und jeder Sohn es respektive schafft, im Vergleich zu den Vorfahren einen kleinen Schritt am Weg zur Autonomie voranzukommen, bleibt der Status des Afroamerikaners als zweitrangiges Individuum mit reduzierten Menschenrechten im Grunde unberührt.
„Die meisten Menschen lebten oben
und schauten nicht nach unten.“
Die als Lichtblick erscheinende, im Roman als letzte behandelte Generation, die den Mut zur intellektuellen Reflexion eigener Geschichte sowie zur Teilnahme an Protestbewegungen im Namen der Verbesserung des Status quo besitzt, und die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln vornimmt, verbleibt bei der Heimkehr jedoch als zwischenweltliche Gruppe schweben, die sich nirgendwo wirklich zu Hause fühlt.
Selten hat es ein:e Autor:in geschafft, eine weit zurückgreifende Geschichte mit so vielen auseinandergehenden Zweigen zu weben und diese dabei kompositorisch so kohärent ineinander zu flechten. Die Figurenstruktur ist zwar komplex genug, um zu Beginn des Romans einen Familienbaum hinzustellen – dennoch werden die Zusammenhänge zwischen Urenkeln und Vorfahren stets aufrechterhalten, ihre Seelen sind miteinander verbunden und ihr Erbe ist im Geist des nächsten inbegriffen.
Empathie entsteht für jede der Figuren, die der Leser kennenlernt, und die Mutter-Tochter und Vater-Sohn-Beziehungen, die fortführend im Vordergrund stehen, stärken diese nur umso mehr. Dass der Leser die Jungen und Mädchen beim Erwachsenwerden beobachten und die fortschreitenden Familiendynamiken verfolgen kann, in denen die Urenkelin zur Urgroßmutter wird, bindet die gesamte Familie nur enger ans Herz.
Faszinierend sind zudem der an den magischen Realismus erinnernde spirituelle Zusammenhang der Individuen mit ihrer Familie und die Anwesenheit von Geistern, Dämonen, Naturgöttern und Totemähnlichen Objekten, die eine Person, eine Familie oder einen Stamm repräsentieren können. Dass der Tod keineswegs auch den Abschied bedeutet, ist ebenso allgemein bekannt:
„Ich habe dich hier hineingeworfen,
damit du weißt, wo dein Zuhause ist,
sollte dein Geist jemals herumwandern.“
Auf die beide Familien zusammenfügende Feuer- und Wasserthematik gehe ich an dieser Stelle nicht ein, um inhaltliche Spoiler zu vermeiden, möchte sie jedoch als elegante kompositorische und mächtige naturbezogene Elemente hervorheben, die die Erzählung auf eine symbolische und spirituelle Art und Weise zusammenbinden.
„Heimkehren“ ist ein kulturhistorisch, emotional und sozialkritisch gewaltvolles und gehaltvolles Buch, für das ich nichts anderes als Lob auszusprechen habe. An dieser Stelle vergebe ich mit Freude eine uneingeschränkte Leseempfehlung.
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* im deutschsprachigen Raum auch unter dem Namen Aschanti (Wikipedia) oder Ashanti (transafrika.org) bekannt, im Englischen Asante oder Ashanti genannt.
Bibliografie:
Titel: Heimkehren
Autor: Yaa Gyasi
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 23.08.2017
Verlag: DuMont
ISBN: 978-3-8321-9838-1
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Deutschlandfunk Kultur: Jahrhunderte des Menschenhandels. Geschichte der Sklaverei.
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Gyasi in The Guardian: White People, black authors are not your medicine
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