
Judith Fantos Debütroman „Viktor“ ist ein ergreifendes und zugleich erhellendes Familienportrait, das die schwierigsten Jahre europäischer Zeitgeschichte und deren Nachhall generationenübergreifend behandelt. Ebenso obduziert Fanto den Begriff Identität und reflektiert kritisch die Arten von Spuren jüdischer Geschichte, die in den Erben der zerstörten Generation neu definiert zur Geltung kommen.
Dieser Roman ist eine gelungene Kombination von Empathie und Scharfsinn – nicht nur auf der Figurenebene. Analytisch hat genau diese Auseinandersetzung einer jungen Frau mit ihren Wurzeln dem zeitgenössischen Diskurs zur Schoah und jüdischer Identität aus einer belletristischen Sicht gefehlt.

Im Auftakt werden als interessante Kombination Imre Kertész und Friedrich Nietzsche zitiert. Auf die Zusammenhänge von Nietzsches philosophischem Werk und die Ideologie des Nationalsozialismus kommt die Autorin im letzten Viertel des Romans zu sprechen. Wer „Roman eines Schicksallosen“ von Kertész gelesen hat, wird die Zusammenhänge in der zweiten Hälfte des Romans recht deutlich verstehen.
Der Roman basiert auf einer echten Familienhistorie und folgt zeitgleich zwei Lebenslinien der Familie Fanto.1
Im Jahr 1914 wächst der unkonventionelle, individualistische Viktor in Wien als schwarzes Schaf seiner Familie auf. 1994 befindet sich Geertje, die Enkelin seines Bruders, in Nimwegen auf der Suche nach den Spuren ihrer Wurzeln, um ihre eigene Identität zu definieren.
Viktor unterliegt in den 1930er Jahren als Mitglied einer jüdischen Familie direkt der immer mehr werdenden Unterdrückung und schließlich der vollständigen Beraubung von Menschenrechten. Als starkes Individuum tut er einiges, um seine Freunde und Familie vor Gewalt und Erniedrigung zu bewahren – dennoch kann auch seine Familie den Beschimpfungen und Schlägen der deutschen Soldaten und dem Transport ins Konzentrationslager nicht entgehen.
Geertjes aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte führt sie zwar direkt über die ihr bekannten wenigen Informationsfetzen hinaus – und doch scheint sich hinter der Geschichte noch eine weitere Geschichte zu verbergen. In staubigen Schubladen und alten Fotos sucht sie nach den Wahrheiten, die ihre Großeltern ihr nicht preisgeben wollen. Denn sie ist zwar Jüdin, doch redet ihre Familie nie darüber.
„Ihr Leben war real gewesen, und damit war es auch ihr Tod.
Es gab keine Märchen und keine ikonischen Heiligen.
Nur Tatsachen und Menschen. Echte Menschen.“
Geertje beginnt während ihrer Studienzeit nach einem Punkt oder Ort zu suchen, über den sie sich identifizieren kann. Sie beschließt, die in ihrer Kindheit immer prominent gewesene Angst ihrer Mutter, als Jüdin erkannt und behandelt zu werden, zu konfrontieren. Geertje geht radikale Schritte, ändert ihren Namen in Judith, wird Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, besucht Diskussionsrunden über die Schoah – und forscht immer weiter in der verhüllten Familiengeschichte.
Dennoch geht es schließlich um die persönlichen Wahrheiten, die in ihr verborgen sind: warum diese Notwendigkeit einer klaren Zugehörigkeit? Was ist der eigentliche Grund des Wunsches, jüdisch zu sein? Worin liegt der Gewinn – und was passiert, wenn man sich auf dem Weg dahin erneut verliert?
Dass Judith auch sich selbst kritisch hinterfragt, auf welchen Wegen ihre Familie ihr schlussendlich auf ihrer Identitätssuche entgegenkommt – und wie eng sie eigentlich an den 80 Jahre früher geborenen Viktor gebunden ist –, diese Aspekte machen den Kern der Handlung aus. Ungeachtet der bereits humorvollen, dynamischen Dialoge zwischen sympathischen, vielfältigen Figuren. Das Buch ist weit mehr als ein Unterhaltungsroman: es reflektiert sich selbst und sein informatives Grundgerüst, behandelt nicht nur eine komplexe Thematik, sondern durchleuchtet diese aus vielerlei Blickwinkeln.
Die Autorin Judith Fanto ist selbst eine äußerst vielseitige Person: Juristin im Bereich Medizinrecht, Journalistin und Gründerin mehrerer Stiftungen für kulturelle Aktivitäten und Bildungsangebote vor allem für jüdische Mitmenschen.2 Diese Vielfalt kann ebenso als Begründung für die empathische und analytische Treffsicherheit im Roman dienen: Die Autorin weiß eben, wovon sie spricht.
Die Auseinandersetzungen mit der Thematik sind entsprechend kritisch reflektiert und perspektivisch vielseitig. Fanto gibt mit „Viktor“ einen beeindruckenden Standard an, der bei der Lektüre mehrmals positiv überrascht.
„Auf den Gedanken, dass andere, echte Juden ihr Handeln verurteilen könnten,
wäre ich vorher nie gekommen.“
Dass das Schicksal zum Ende des Romans mit Judith geradezu rumspielt, ihr schließlich doch ein „nein“ auf die Frage gibt, die sie bereits für sicher beantwortet hielt – und sich dann die Sachlage erneut als anders herausstellt – war meines Erachtens allerdings unnötig.
Unabsichtliche (und gewollte) Verwechslungen von Personen in Zeiten von Kriegen, Konzentrationslagern, Migration, Flucht und Regimewechsel sind plausibel und jedem bekannt, der historisch-kritische Lektüre über diese Themen studiert hat. Dennoch hat diese was-wäre-wenn-Situation für mich eher den Eindruck einer Seifenoperfolge als einer schlauen Enthüllung hinterlassen.
Von diesen fünf Seiten abgesehen ist „Viktor“ ein phänomenales Debüt, ein wichtiger Roman zum Thema Judenvernichtung, Fremdenhass, Nationalsozialismus – und sehr gutes Gesprächsmaterial bezüglich der Einflüsse europäischer Geschichte, die auch für unsere Generation ein erhebliches Gewicht besitzen.
Der Diskurs um die Schoah ist alles andere als geschlossen. Fantos „Viktor“ ist ein hervorragender Roman zur kritischen Reflexion der Sachlage. Einen ebenso starken Eindruck hinterlässt die dynamische Geschichte der Familie, die Leid und Last mit Witz und Liebe mischt – denn durch Zusammenhalt und gemeinsame Kraft haben die Fantos überlebt.
Meinerseits eine uneingeschränkte Leseempfehlung.
Und nun bin ich gespannt auf Deine Meinung zum Thema. Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte, Empfehlungen und Anregungen zum besseren Verständnis für Beteiligte und Außenseiter.
Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!
Hier geht’s zur Leseprobe („Blick ins Buch“).
1 – die Familie besitzt im Laufe der Geschichte aus diversen Gründen unterschiedliche Namen, die an dieser Stelle zwecks einheitlicher Darstellung und Lesefluss nicht aufgezählt werden.
2 – Urachhaus, Autoren: Judith Fanto.
Bibliografie:
Titel: Viktor
Autor: Judith Fanto
Seitenzahl: 415
Erscheinungsdatum: 18.05.2021
Verlag: Urachhaus
ISBN: 978-3-8251-5257-4
Viktor bestellen: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *
Mehr literarische Abenteuer:
Annalena McAfee: „Blütenschatten“
Yaa Gyasi: „Heimkehren“
Fiona Mozley: „Elmet“
Du möchtest meinen Blog unterstützen?
Kaffeekasse via PayPal
Buchwunschliste auf Amazon
Sollte ein von mir besprochenes Buch Dir gefallen, hast Du die Möglichkeit, es über die mit * gekennzeichneten affiliate Links zu bestellen – oder über die Werbebanner auf der rechten Seite den Online-Shop Deiner Wahl aufzurufen. Dadurch verdiene ich eine Kommission. Dir fallen keine Zusatzkosten an.
Vielen Dank!
Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Kommentar verfassen