Literarische Abenteuer. Patricia Highsmith: „Ladies. Frühe Stories“

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US-Amerikanische Autorin Patricia Highsmith (1921–1995) genießt seit den 1950er Jahren vorrangig Beliebtheit für das psychologische Raffinement ihrer Kriminalromane. Sie gehört zu den meistverfilmten Autor:innen der Filmgeschichte – dies bezieht sich kombinatorisch auf die unter ihrem Namen und dem Pseudonym Claire Morgan veröffentlichten Werke.

Nun ist es im Kurzgeschichtenband „Ladies. Frühe Stories“ möglich, die volle Pracht verstörender, spannender Momente aus den ersten Erzählungen und Fragmenten auf sich wirken zu lassen, die anhand von wenigen Buchseiten die beeindruckende Menschenkenntnis und unkonventionelle Fantasie der Autorin bezeugen.


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Der Band beinhaltet 16 ursprünglich zwischen 1936–1948 veröffentlichte Kurzgeschichten und Fragmente. Zu dieser Zeit erschienen Highsmiths Stories nur verstreut in Schul- und Frauenmagazinen. Anhand der gehaltvollen Ausführung hätten allerdings bereits einige der frühen Stories mühelos in längere Formate ausgearbeitet werden können.

Obwohl bereits die 1945 erschienene Geschichte „The Heroine“ unter die besten US-amerikanischen Kurzgeschichten des Jahres gewählt wurde, gelang der Durchbruch vor allem in 1950 mit dem Roman „Zwei Fremde im Zug“ (Strangers on a Train) und 1955 mit dem ersten Band ihrer später als „Ripliade“ bekannten Reihe, „Der talentierte Mr. Ripley“.1

Highsmith interessierte sich sowohl in ihren Krimis als auch in den Kurzgeschichten weniger für die moralischen Aspekte ihrer Geschichten als für das Innenleben ihrer Protagonisten. In ihren Krimiromanen ging die Autorin ebenso vorrangig auf die psychologische Erzählebene ein, was die Komplexität und Ambivalenz ihrer Haupt- und Nebenfiguren über einen herkömmlichen Krimi hinaustrug.

Diese Vielfalt steht in ihren Kurzgeschichten ebenso im Vordergrund.


Bereits die erste Story „Die Legende des Klosters von Saint Fotheringay“ wird aus einer höchst ungewöhnlichen Perspektive erzählt, die mit geschlechtlichen Normen spielt: ein Findelkind wird in einem strengen Kloster aufgenommen, deren Zöglingen die vollständige Existenz des männlichen Geschlechts unbekannt bleibt, und wächst dort als „Mary“ auf.

Eine Kombination aus Satiren bezüglich Geschlechterrollen sowie Kritik religiöser Institutionen werden mit einer sehr spannenden Handlung durchwoben. Weder das Kloster noch Mary entsprechen nämlich dem, was der erste Eindruck über sie verrät. Die Erzählung ist humorvoll, frech, bissig, spannend und endet in einer vollständigen Katastrophe – ein voller Lesegenuss.


Schwester Craigenputtock stand mit offenem Mund da,
allerdings nicht wegen des Kuchens oder aufgrund der Vorstellung,
dass das Kloster in die Luft fliegen könnte,
denn Mary stieß ständig irgendwelche Drohungen aus.
Es ging ihr um die Sprache, die er benutzte.


Ein weiteres Highlight schildert „Die morgen des ewigen Nichts“, in dem ein überzeugendes Kleinstadtportrait gezeichnet wird. Ein ehemaliger Taxifahrer aus New York möchte sich in einer zunächst überdurchschnittlich einladenden Kleinstadt einen Kurzurlaub gönnen – doch nach einigen Tagen entpuppt sich der wahre Charakter des Ortes und unangenehme Überraschungen häufen sich mit einer unerwarteten Schnelligkeit vor dem gutmütigen Protagonisten.

Von vorne bis hinten knisternd mit Lebensgefahr ist „Als die Flotte im Hafen lag“: sie beginnt mit einem skrupellosen Mord. Aus der Perspektive der Mörderin wird ihre Beziehung zum Opfer dargestellt, und ihr gut durchdachter Plan scheint reibungslos zu funktionieren – bis am Ende klar wird, dass sie nie die Katze, sondern schon immer die Maus in diesem Spiel gewesen war.

Sehr kurz und dennoch vielversprechend wird die Psychologie der Stadt-Land-Konfrontation in „Die Weltmeisterin im Ballwerfen“ umgewandt: Eine Familie zieht aus einer Kleinstadt nach New York. Die erste Begegnung mit einer potenziellen neuen Freundin lässt die Familientochter auf eine Mauer an großstädtischer Kälte, Apathie und Desinteresse zulaufen. Obwohl die Geschichte fast nur aus drei Momenten besteht, werden die sozialen Hintergründe, die psychologische Motivation und die grundlegenden Existenzängste aller der Figuren in pointierter Sprache erläutert.


Verstörend und geradezu diabolisch geht es in „Die Heldin“ zu, wo ein aus eigener Sicht vollkommen selbstloses Kindermädchen mit ihrem angeblichen Drang, ihre restlose Hingabe für die Familie unter Beweis stellen zu müssen, ihre Schützlinge in stattdessen in Lebensgefahr bringt. Die im Hintergrund stehende Tatsache, dass Hysterie und labiles Verhalten in ihrer Familie des Öfteren vorkommen, mag etwas damit zu tun haben…

Grotesk und komisch geht es in der letzten Story „Der Schneckenforscher“ zu, in der das durch einen Zufall inspirierte Interesse am äußerst sinnlichen Paarungsverhalten von Schnecken einen Hobbybiologen zu wesentlich größeren Verlusten als den Teppich in seinem Arbeitszimmer führt…


Doch je mehr seine Frau und seine Freunde diesen ungewöhnlichen
und irgendwie unappetitlichen Zeitvertreib kritisierten,
desto mehr Vergnügen schien Mr. Knoppert daran zu finden.


Diese letzte Perle erinnert an Bulgakows „Die verhängnisvollen Eier“ – das Ausmaß an schwarzem Humor, das plötzliche Ausarten eines scheinbar harmlosen Hobbys und die fatalen Konsequenzen hat Highsmith ebenso hervorragend und amüsant niedergeschrieben.

Es gäbe eine beträchtliche Menge an kleinen Nuancen, interessanten Feinheiten und raffinierten Details zu bewundern und zu unterstreichen, die in Highsmiths Stories vorkommen. Anstatt aber an dieser Stelle die Spannung zu mindern, gebe ich lediglich eine Leseempfehlung: an diejenigen, die die Autorin bereits kennen und ebenso an diejenigen, die sie nun kennenlernen möchten.

Liebhaber von Kurzgeschichten werden in den frühen Stories reichlich Freude, Schrecken, Scharfsinn und Humor vorfinden – des Öfteren in vollkommen unerwarteten Kombinationen.


Hast Du bereits einen Roman oder eine Kurzgeschichte von Patricia Highsmith gelesen – oder eine Verfilmung, Vertonung oder Bühnenvariante ihres Werks gesehen? Welchen Roman sollte man von der Autorin unbedingt gelesen haben und welchen kann man ruhig liegen lassen?

Auf Deine Gedanken in den Kommentaren freue ich mich sehr.


Hier geht’s zur Leseprobe (PDF Download).

1 – Wikipedia (dt.): Patricia Highsmith.

Bibliografie:

Titel: Ladies. Frühe Stories
Autor: Patricia Highsmith
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 28.10.2020
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07152-8

Ladies bestellen: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *


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Michail Bulgakow: „Teufeliaden“
Annalena McAfee: „Blütenschatten“
Ottessa Moshfegh: „Der Tod in ihren Händen“


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1 Antwort

  1. Bei Patricia Highsmith habe ich noch etwas aufzuholen. Bisher habe ich nur den ersten Band der Ripley-Reihe gelesen und als Film gesehen, sowie die Verfilmung von Die zwei Gesichter des Januar(?) zumindest denke ich, dass das von ihr ist. Aber dein Beitrag erinnert mich daran, dass ich die Ripley-Romane eigentlich mal weiterlesen wollte … der hier klingt aber auch enorm spannend und abwechslungsreich!

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    • Es ist auf jeden Fall eine schöne Erinnerung an ihr psychologisches Können, und gibt einige Ansätze, an denen man später noch ein wenig weiter grübeln kann. Humor ist ebenso am Platz 😉 Den Ripley-Film habe ich genossen, da Krimi nicht meine erste Wahl ist, kenne ich tatsächlich kaum etwas anderes von der Autorin und habe mich umso mehr erfreut, dieses Bändchen als Schnupperbuch lesen zu dürfen!

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