Die polnische Autorin und Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (* 1962) kombiniert in ihren persönlichkeitsstarken Texten wissenschaftliche Ansätze, historische Diskurse und komplexe figurenpsychologische Ansprüche. Bereits ihre Romane „Unrast“ und „Anna in“ habe ich mit hohem Interesse gelesen und in beiden Werken ein enormes Ausmaß an Reflexionsboden gefunden.
Aus welchen Gründen gilt „Gesang der Fledermäuse“, übersetzt von Doreen Daume, jedoch argumentativ als bis dato aussagekräftigster Roman der talentierten Autorin?

Auf dem winterlichen Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze, verlassen von Wärme, Licht und Mitmenschen, überwacht und pflegt Janina Duszejko die Sommerhäuser der städtischen Besucher, die den Ort zur warmen Jahreszeit als ultimatives Urlaubsziel genießen und anpilgern – um ihn zur kalten Jahreszeit wieder prompt zu verlassen.
In den stillen Wintermonaten widmet die ältere Dame sich nebst der Pflege mehrerer Häuser der Astrologie, der Entdeckung verlassener Landschaften und wilder Natur – und dem Studium des düsteren Lyrikers William Blake.
Janina genießt ihr stilles Leben und fühlt sich in der kargen Natur wohl – wenn da sich nur nicht ihr schwächer werdender alternder Körper sich immer wieder melden würde.
Am wenigsten hält Janina allerdings von ihren groben Nachbarn und denjenigen Mitmenschen im Ort, die gewaltvoll mit wilden Tieren umgehen, die Jagd heiligen und der Umwelt durch ihr Verhalten irreversible Schäden hinzufügen.
Die Last dieser Bösartigkeit scheint die Protagonistin als einzige zu empfinden – bis mehrere der von ihr als Unmenschen angesehene Individuen plötzlich und erbarmungslos sterben.
„Wenn ich an jenem Abend in den Ephemeriden
nachgesehen hätte, was am Himmel passiert,
dann hätte ich mich überhaupt nicht schlafen gelegt.“(7)
Dem Tod eines Nachbars folgen weitere grausame Vorfälle – und eine Lawine an Konflikten, Spannungen und Verknotungen wird im Ort freigesetzt.
Ist es wirklich die Natur selbst, die endlich zurück kämpft – oder versteckt sich im Hochplateau ein kaltblütiger Mörder?
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Dieser Krimi Plus – denn „Gesang der Fledermäuse“ (Prowadź swój pług przez kości umarłych, 2009) birgt bei Weitem mehr als ein reines Mordmysterium – entfaltet sich in hochgradig genussvollen Episoden und Kapiteln, die mit reichlich Situationskomik und figurenpsychologischen Feinheiten verwoben sind.
Obwohl auch die Protagonistin im Ort als milde gesagt verschroben wahrgenommen wird, besitzen ausnahmslos alle (lebendigen und verstorbenen, zwei- und vierbeinigen) Mitspieler*innen dieser Geschichte Besonderheiten, die von ulkig bis grotesk reichen und Lesenden ein hohes Ausmaß an Überraschungen bieten.
„Ich blickte auf die schwarzweiße Landschaft des Hochplateaus,
und mir war klar, dass Traurigkeit ein wichtiges Wort bei der
Definition der Welt war. Sie liegt allem zugrunde, sie ist das
fünfte Element, die Quintessenz.“(60)
Die ambivalente Protagonistin, deren figurenpsychologische Entfaltung bis zu den letzten Seiten des Romans nicht vollendet wird, ist – ohne zu spoilern – mit größter Wahrscheinlichkeit als primäres Mysterium dieser Geschichte zu interpretieren. Dies geschieht, weil der Roman vorrangig aus der Ich-Perspektive erzählt wird und die Protagonistin mehr über die Umgebung, Bewohner und Natur verrät als über sich selbst.
Markant und geheimnisvoll sind allerdings auch einige der Nebenfiguren und die Erzählkulisse selbst – die sowohl den Figuren als auch den Lesenden bei der Ermittlung des eigentlichen Geschehens zahlreiche komplexe Fallstricke stellt.
Tokarczuk obduziert klassische semantische Felder und literarische Polarisierungen á la schön–hässlich, stark–schwach, pragmatisch–mystisch et cetera, spielt mit den Erwartungen der Leserschaft und lässt Gedanken gekonnt in multiple Richtungen ausschweifen, ehe die eigentliche Lösung preisgegeben wird.
„Die Psyche ist unser Immunsystem – sie sorgt dafür,
dass wir niemals verstehen, was um uns herum vorgeht.
[…] alles Wissen wäre nicht zu ertragen. Denn jedes kleinste
Teilchen der Welt ist aus Leid zusammengetragen.“ (254)
Darüber hinaus bietet die Autorin kleine Einblicke in lokalkolorierte Ideologien wie die Verknüpfung von Jagd und Katholizismus oder soziopolitische Beziehungen zwischen Polen und Tschechen – oftmals nur als Hinweise platziert, doch stets bedacht, sowohl im Kontext der Haupthandlung als auch zur Bereicherung des Reflexionsbodens vom Roman.
Zu kritisieren gäbe es hier lediglich die Tatsache, dass diese Geschichte irgendwann relativ abrupt zum Ende kommt – obwohl Tokarczuk sie über dreihundert Seiten ausbreitet und somit in jeglicher Hinsicht üppig gestaltet.
Das Ende des Romans ist organisch, unerwartet, spannend, überraschend und erwartbar zugleich. Keineswegs ist die abrupte Auflösung als misslungen zu betrachten – dennoch wären weitere Kapitel ebenso willkommen gewesen, denn „Gesang der Fledermäuse“ fesselt, überrascht und unterhält exzellent – von der ersten bis zur Letzten Seite.
Meinerseits eine klare Leseempfehlung.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: „Gesang der Fledermäuse“
Originaltitel: Prowadź swój pług przez kości umarłych
Autor*in: Olga Tokarczuk
Übs.*in: Doreen Daume
320 Seiten | 14,00 € (D) (Tb)
Erscheinungsdatum: 23.07.2020
Verlag: Kampa
ISBN: 978 3 311 15003 9
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