In ihrem Sammelband „Tyrannen“ (2022) gehen André Krischer, Professor der Geschichte der frühen Neuzeit, und Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin und Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, den Biografien, Taten und Nachwirkungen einiger umstrittensten und grausamsten historischen Personen auf den Grund.
Von Caligula bis Putin werden zwanzig kontroverse Herrscher*innen der Weltgeschichte von den Herausgeber*innen sowie diversen spezialisierten Historiker*innen in chronologischer Reihenfolge unter die Lupe genommen.
Warum erschüttert dieser gehaltvolle Sammelband gerade mit seiner Sachlichkeit?

Der Titel ist Programm: im Sammelband „Tyrannen“ gehen zwanzig Autor*innen je einem gefürchteten, gehassten, infamen historischen Subjekt und dessen zeitgenössischer Rolle im eigenen Wirkungsbereich – sowie dem Nachhall der respektiven Person im polithistorischen Weltgeschehen – nach.
Chronologisch und geographisch zieht sich der Sammelband durch den Großteil der Menschheitsgeschichte und den globalen Kreis bekannter Despoten, Autokraten, Diktatoren.
Über die reine Definition der aufgelisteten Begriffe sinnieren fast alle Autor*innen im jeweiligen zeitgenössischen Kontext – doch stehen im Vordergrund der Artikel Werdegang, Auswirkung und Ambivalenz der verfügbaren Perspektiven und Informationen.
„Richard III. zum exemplarischen Tyrannen zu stilisieren
war ein multimediales Projekt.“(83)
Vergleiche und Kontrastierungen von zeitgenössischem und posthumem Ruf der respektiven Herrschern – vorrangig derjenigen aus Antike und Mittelalter – lassen immer wieder neue Erkenntnisse zum Vorschein kommen, die zementierte Wahrheiten des Öfteren zerbröckeln lassen.
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So zeigen beispielsweise die Kapitel über Caligula, Nero und Richard dem III. diverse mögliche Rezeptionen ihrer Herrschaft und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, Wirtschaft – und andere Faktoren der jeweiligen Territorien.
Inwiefern die Wahrnehmung eines Herrschenden beispielsweise von seinen Rival*innen und Vorgänger*innen beeinflusst und verzerrt werden kann, arbeiten die genannten Artikel ebenso treffend aus.
„Die neuere Forschung hat das Bild korrigiert,
wonach Heinrich III. seine Mutter politisch entmachtet
und ihr nur noch eine untergeordnete Rolle
bei der Regierung des Landes eingeräumt habe.“(97)
Als argumentativ schrecklichste Facette der neuere Entwicklungen behandelnden Kapitel (Mugabe, Erdoğan, Al-Assad) ist allerdings ihre hohe Neutralität und Sachlichkeit hervorzuheben.
„Die russische und iranische Führung dagegen unterstützen
das aus ihrer Sicht legitime Assad-Regime […].
Vielmehr konzentrieren sich von Moskau und Teheran
gesteuerte Medien auf tatsächliche und vorgebliche Untaten
der Assad-Gegner, die sie samt und sonders
als Terroristen Kategorisieren.“(266)
Der Anspruch, die behandelten Autokraten von so vielen Seiten wie möglich zu zeigen und damit ein nachvollziehbares Bild der sie umgebenden Wechselwirkungen zu zeichnen, gelingt in fast jedem Artikel – und so haben gerade die zeitgenössischen Portraits eine enorm schlagkräftige Wirkung.
Selbstredend steht fest, dass Personen wie Kim Jong-un, Donald Trump und Vladimir Putin – wohl gemerkt, aus vollständig unterschiedlichen Lebenswelten, Umständen und Verhältnissen stammend – ohne eine radikalisierte Gefolgschaft die ihnen zurzeit gebührende Macht nicht aufrechterhalten könnten.
Die Prozesse im internen Ökosystem dieser Organe als sachliche Schilderung zu lesen ist im reflexiven Prozess dennoch mehr als entsetzlich und sensibilisiert Lesende derweilen für die eigene westliche Perspektive.
Kompositorisch und inhaltlich liest sich der Sammelband hervorragend: alle Kapitel haben nivellierte sprachliche, strukturelle und inhaltliche Ansprüche. Die Artikel sind auf je fünfzehn Seiten beschränkt und bieten meist nicht nur historische Wahrheiten auf deskriptiver Ebene, sondern gehen auch wissenschaftskritisch, mit einem hohen Objektivitätsanspruch vor, der bei vielen wissenschaftlichen Artikeln mit polithistorischem Schwerpunkt außen vor bleibt.
Summarum gilt in diesem Sammelband nicht nur eine Stringenz in Sprache, Struktur und Komposition zu loben, sondern die beeindruckende Gleichheit der Artikel in puncto Niveau, Objektivität und sachlicher Vielfalt.
Mit Sicherheit wird nicht jeder Artikel jedem Lesenden den gleichen Resonanzboden bieten – argumentativ beschäftigen sich einige Artikel wesentlich tiefgründiger mit dem Verständnis des Forschungsobjekts als Tyrann, Despot, Usurpator, Diktator usw., wohingegen andere Artikel ihren Fokus eher auf die Vorgeschichte des respektiven Herrschers legen.
Allerdings müsste ein sehr scharfes Auge an dieser Stelle die Lektüre antreten, um mögliche Mängel festzustellen – da die Diversität, der zeitliche Abstand und die globalen Maßstäbe zwischen einigen der Artikel überhaupt nur minimale Schnittflächen erlauben. Ein direkter Vergleich der Inhalte ist aus diesen Gründen auch nicht als optimale Herangehensweise für eine Analyse des Gesamtwerks zu betrachten.
Persönlich kenne ich wenige Sammelbände, die eine solche Stringenz sowohl beanspruchen als auch bewerkstelligen – wer sich mit der Organisation und Zusammenstellung wissenschaftlicher Zusammenarbeit beschäftigt hat, wird an dieser Stelle mit Sicherheit Zuspruch nicken.
Als einzige Kritik gilt die relativ kleine Schrift der Artikel. Da jedem Artikel ein Bild vom behandelten Tyrannen beiliegt, ist nämlich explizit vom Anspruch nicht nur des inhaltlichen, sondern auch des visuellen Gefallens auszugehen.
Obwohl die Auswahl von Bildern und Karikaturen der jeweiligen Tyrannen zum besseren Verständnis der Symbolik und der Positionierung der Personen im persönlichen Umfeld gut begründet ist, wäre der Sammelband vom reinen Seitenumfang her entweder durch den Ausschluss visueller Ergänzungen oder mit sechzig (20×3) bis einhundert (20×5) zusätzlichen Seiten – gleicher Inhalt, größere Schrift – wesentlich angenehmer zu konsumieren gewesen.
Von diesem kleinen Mangel abgesehen spreche ich für „Tyrannen“ eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Tyrannen
Autor*in: Krischer, André / Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.)
352 Seiten | 29,95 € (D)
Erscheinungsdatum: 12.09.2022
Verlag: C. H. Beck
ISBN: 978-3-406-79080-5
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