Trude Teige (* 1960) zählt zu den bekanntesten Journalist*innen und TV-Moderator*innen Norwegens – und gehört ebenso zu den erfolgreichsten Kriminalautor*innen des Landes.
Teiges historischer Roman „Als Großmutter im Regen tanzte“ stand mehrere Jahre lang auf den norwegischen Bestsellerlisten und ist nun in deutscher Übersetzung von Günther Frauenlob erschienen. Der Roman fesselt, erschüttert – und beleuchtet grausame, bis dato kaum behandelte Facetten europäischer Zeitgeschichte.

Trude Teige, deren Kriminalromane der Kajsa Coren-Reihe bisher im Aufbau Taschenbuch erschienen sind, legt mit „Als Großmutter im Regen tanzte“ ein beeindruckendes und bewegendes Studium der norwegisch-deutschen Zeitgeschichte vor.
Die Handlung umfasst drei Generationen und bewegt sich zwischen Norwegen und Deutschland.
Teige untersucht die deutsch-norwegischen Beziehungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, zeigt erstens den Nachhall des Einzugs von Hitlers Armee in Norwegen auf und legt überdies die Umstände um die Tragödie in Demmin im Mai 1945 aus, als die Russen nach Westen vorrückten.
Die Handlung wechselt zwischen zwei Zeitebenen, skizziert allerdings drei Frauenleben.
Gleichzeitig steigen Lesende in die Perspektiven von Juni und ihrer Großmutter Tekla ein, die beide vor einer respektive lebensverändernden Entscheidung stehen.
Die junge Tekla verliebt sich in den Besatzungssoldaten Otto und folgt ihm nach Demmin in Deutschland, wo statt des oft gepriesenen Familienguts die Trümmern des Zweiten Weltkriegs und ein mit Gewalt und Unterdrückung gefüllter Alltag auf das frische Ehepaar warten.
Dennoch wird die Vermählung in Deutschland gesegnet – in Norwegen wird Tekla zu einer „tyskertøs“, einem „Deutschenmädchen“. Es handelt sich um einen abwertenden Begriff, der eher als „Deutschenflittchen“ gemeint ist, da die Norweger die entsprechenden Mädchen als Staatsverräterinnen betrachteten und sie entsprechenden Hass haben fühlen lassen.
„Kriegsgeschichte ist ja größtenteils von Männern geschrieben
worden, über Männer.“(Brief und Dank der Autorin, 379)
Doch nicht nur Freunde und Familie wandten sich von den „Deutschenmädchen“ ab. Im Nachwort erläutert Teige, wie der Historiker Ragnar Ulstein ihr Zugang zu nie publizierten Interviews gewährt hat – mit Frauen, die nach Deutschland gingen und damit ihre norwegische Staatsbürgerschaft verloren.
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Die historische Fundiertheit und die absolut brutale Schilderung roher Realitäten in und nach Kriegszeiten heben Teiges Roman weit ab von handelsüblichen Schicksals- oder Liebesgeschichten. Hier mag das verträumte Cover etwas irreführend wirken, denn „Als Großmutter im Regen tanzte“ ist keineswegs eine seichte Liebesgeschichte oder ein nur in Anführungszeichen historischer Roman, der sich vorrangig mit Emotionen auseinandersetzt.
Im Fokus beider Handlungslinien steht Teklas Werdegang, da auch Juni erfahren möchte, warum die Großmutter ihre Lebensgeschichte vehement verschwiegen hat. So stellt sich die Familiengeschichte nach und nach aus Stücken zusammen: einerseits aus Junis Recherchen und Funden, andererseits aus Teklas eigener Perspektive.
Für den Roman recherchierte die Autorin sowohl in Berlin als auch in Demmin, wo Tekla jeweils einige Zeit verbringt. Entsprechend sind nicht nur die respektiven Ortsbeschreibungen akkurat – und entsetzlich –, sondern die Logistik der vielen Stationen und schwierigen Hürden auf Teklas Weg zurück nach Hause von einer hohen Authentizität geprägt.
„Ich verbringe meine Tage mit der Suche nach
etwas essbarem und durchstöbere die Abfalleimer.
Einmal in der Woche verlasse ich die Stadt
und wandere nach Einbruch der Dunkelheit
an den Feldern entlang.“(98)
Kompositorisch legt Teige ebenso eine Glanzleistung vor: in Teilen wirkt der Lebenslauf zwar – beabsichtigt – konstruiert, doch stets verläuft die Geschichte kausal und stringent. Zudem mutet die Autorin ihrer Leserschaft zu, die Biografie aus Puzzlestücken auch selbstständig zusammenzufügen: sämtliche für eine vollständige Biografie relevante Details und Momente kommen zwar irgendwann in der Handlung vor, doch wiederholen Momente oder Gedanken sich nicht.
Die Kombination von faktisch pointierten Passagen und emotional gehaltvollen Momenten ließen mich durch die Kapitel fliegen, sodass ich den üppigen, fast vierhundertseitigen Roman in zwei Sitzungen beendete.
Zu warnen gilt es vor der Intensität der Lektüre. Freundlicherweise weist auch der Verlag vor dem Textbeginn darauf hin, dass der Roman Szenen von sexualisierter Gewalt enthält – mit Sicherheit die am meisten verstörenden Momente im gesamten Text.
Doch ist das sich langsam vor Teklas Augen entfaltende Entsetzen, ihre endlos anmutende und zunehmend hoffnungsloser werdende Suche nach einem Weg zurück, summiert, auf dem Rücken der bereits erlebten Traumata, genauso entsetzlich und anstrengend.
Als Beispiel ein Fragment der Schilderungen aus dem tristen Nachkriegsberlin:
„Sehen diese Skelette etwas so aus,
als probten sie den Aufstand?
Sehen diese ausgehungerten, kraftlosen,
obdachlosen Menschen für Sie wirklich so aus,
als würden sie an Rache denken?“(299)
Im kurzen Brief und Dank schildert Teige ein Gespräch mit der Norwegerin Anna Deichmann, die ursprünglich aus Vadsø stammt, ihr Leben als „Deutschenmädchen“ in Hannover verbrachte und im fortgeschrittenen Alter wieder nach Norwegen zurückkehrte.
Unglaublich makaber und entrüstend mutet die Anmerkung von Anna Deichmann an, die ihren neuen norwegischen Ausweis zeigt und konstatiert, sie sei jetzt „wieder gut genug“ (380).
Die kurz erwähnte dritte Protagonistin, Teklas Tochter und Junis Mutter Lilla, steht zwischen den Generationen und geht an der kollektiven Anfeindung aus dem Erbe der „Deutschenmädchen“ zugrunde: die angemutete soziale Erniedrigung seitens ihrer eigenen Familie führt sie in den Zwiespalt, zum Alkoholismus und zu einem bodenlosen Hass gegenüber ihrer Mutter und sich selbst. Dies nur einen Bruchteil ihrer eigenen Entstehungsgeschichte kennend.
Junis Mut, die Vergangenheit zu konfrontieren, verhilft ihr – und der Geschichte – schließlich dazu, generationsübergreifende Traumata zu überblicken, zu recherchieren, zu verarbeiten und zu einem hoffnungsvollen Ausblick werden zu lassen. Doch gelingt dies ihr argumentativ nur, weil genügend Zeit zwischen Leid und Leben vergangen und genügend Wasser ins Meer geflossen ist.
Als einziger Abzug galt für mich die zu gut verknüpfte, zu verfügbare, zu hilfreiche und zu anhängliche Helferfigur, die Juni bei ihren Recherchen begleitet hat. Es wäre ein starkes Statement gewesen, hätte sie ihre Suche eigenständig ausführen können.
Doch dann hätte der Weg nach Demmin eventuell genauso lange gedauert wie Teklas Weg zurück – und so viel Schwermut wäre in einem Roman fast schon unerträglich geworden.
„Als Großmutter im Regen tanzte“ ist ein erschütternder, tiefgründiger, mitreißender, historisch und emotional reichhaltiger Roman über Krieg, Liebe, Hass, Elend, Hoffnung und Stärke. Für zarte Gemüter ist dieses Buch definitiv nicht gedacht.
Darüber hinaus möchte ich dieses faszinierende Panorama – voller bisher fast unbekannter, doch ungemein wichtiger historischen Momente – an Zeitgeschichte interessierten Lesenden dringend ans Herz legen.
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Bibliografie:
Titel: Als Großmutter im Regen tanzte
Originaltitel: Mormor danset i regnet
Autor*in: Trude Teige
Übs.*in: Günther Frauenlob
384 Seiten | 22,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 22.02.2023
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-949465-12-3
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