Literarische Abenteuer. Olga Tokarczuk: „Unrast“

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk reflektiert in ihrem Roman „Unrast“ über diverse Formen der Bewegung, des Nomadentums und der Reiseliebe. Die Autorin schreibt scharfsinnige Grübeleien über Leben und Tod, Körper und Seele, Zeit und Raum.

Das Buch ist eigentlich eher als ungewöhnliche Sammlung von Fragmenten und kleinen Geschichten als Roman zu bezeichnen – obwohl sich die Figuren philosophisch gesehen aus denselben Gründen in die gleiche Richtung bewegen. Klarheit bezüglich ihrer Schicksale tritt nach dem Lesen allerdings trotzdem nicht ein. Jedoch entpuppt sich eine bei weitem gewichtigere Wahrheit.


Der Roman besteht aus mehreren nicht aneinander gebundenen Geschichten, zu denen die Handlung ab und an wiederkehrt. Die Figuren haben wenig miteinander zu tun – außer dem reflexiven Kollektivwert der sie verbindenden Themenkomplexe.

Übergreifend werden diverse spannende Reflexionsstränge aufgegriffen: die ideologische Philosophie des Reisens, die existenzialistische Rolle des menschlichen Körpers in religiösen und spirituellen Kontexten, die Beschäftigung mit der anatomischen Beschaffenheit des menschlichen Körpers im Leben sowie im Tod. Und einiges mehr.

Die Handlung beginnt mit der Introspektive der fortweilend unter Fernweh leidenden Ich-Erzählerin, die bereits als kleines Kind am Fluss ihrer Stadt steht und davon träumt, vom Wasser in die weite Welt fortgetragen zu werden. Aus ihr wird eine Alleinreisende, die dann ihre Begegnungen mit Gleichgesinnten schildert.

Diese meist kurzen Eindrücke vermischen sich mit einer sich wiederholenden Lesung an Flughäfen, wo eine Gruppe Wissenschaftler den etwas lächerlichen Versuch anstellt, den Wartenden die Motivation und Gemütsfassung sowie die Bedeutungsstruktur des Reisens an sich zu erklären. Die Ironie zwischen der faktischen Automatisierung und Funktionalität eines Flughafens und den Erwartungen der Gruppe an ihre Zuhörer amüsiert durchaus.


Im Grunde genommen befindet sich die gesamte Erzählung in Transit. Sie lässt den Leser nur kurz über die Figuren erfahren und spekulieren – was genau aus ihnen wird und ob sie ihre Konflikte lösen können, bleibt jedoch meist offen zur individuellen Interpretation.

Die wahrhaftig spannende Seite des Romans sind Reflexionen zu den anthropologischen und soziokulturellen Aspekten des Nomadentums. An dieser Stelle wird scharfe Machtkritik ausgesprochen:


Wer sich aufhält, der versteinert,
wer rastet, wird aufgespießt wie ein Insekt […].
[…]

Deshalb haben Tyrannen aller Färbung, diese Höllendiener,
Hass auf alle Nomaden im Blut,
deshalb verfolgen sie Zigeuner und Juden,
deshalb zwingen sie alle freien Menschen, sich anzusiedeln,
und bezeichnen sie mit einer Adresse,
die für uns ein Urteilsspruch ist.“


Märchenhaften Schilderungen aus entfernten Ländern und verträumten Passagen über Sehnsuchtsorte stehen biografische Studien und wissenschaftlicher Scharfsinn gegenüber – Tokarczuk schreibt zeitgleich über den Orient, das mittelalterliche Italien, Küstendörfer in Kroatien und vielen anderen Orten. Auch Hotelzimmer und Flughäfen nehmen in ihrer Austauschbarkeit die gemeinsame Rolle der Wartestation ein. Räume vereinen sich, unterschiedliche Zeiten treffen aufeinander.


„Unrast“ ist mit Sicherheit ein ungewöhnliches Buch voller wertvoller Geheimnisse zum menschlichen Verhalten. Wer allerdings normalerweise keine Kurzgeschichten oder Erzählungen liest, sondern sich lieber einem in sich geschlossenen, linear verlaufenden Roman widmet, wird hier höchstwahrscheinlich keine Genugtuung finden.

Obwohl ich die einzelnen Figuren ungerne verlor und ihr unvollendetes Schicksal mir zeitweilen zu schaffen machte, konnte ich „Unrast“ in seiner Einzigartigkeit schätzen, den langsam dahinfließenden Schreibstil genießen und beim Innehalten zwischen den einzelnen Passagen über einiges nachdenken.

Wer sich also gerne Zeit zur Reflexion und Grübelei zwischen den Passagen lässt, wissenschaftliche Konzepte und historische Biografien genauso gerne verdaut wie abgeschlossene Figurenentwicklungen – und vor einer sehr expliziten Auseinandersetzung mit menschlicher Anatomie nicht zurückschreckt – wird viele angenehme Stunden mit Tokarczuks intellektuell hochwertigem Roman verbringen können.


Und nun bin ich gespannt auf Deine Meinung. Hast Du etwas von Olga Tokarczuk gelesen und schwärmst bereits länger davon? Findest Du ihre Erzählungen oder Romane lesenswerter?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!


Bibliografie:

Titel: Unrast
Autor: Olga Tokarczuk
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 25.02.2021
Verlag: Kampa
ISBN: 978 3 311 15016 9

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