Literarische Abenteuer. Walter Tevis: „Das Damengambit“

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Die im letzten Jahr erschienene Miniserie „Das Damengambit“ (The Queen’s Gambit) löste nicht nur im breiteren TV-Publikum, sondern auch Kennern und Liebhabern des Schachspiels eine Welle der Begeisterung aus. Die Geschichte der fiktiven Schachmeisterin Beth Harmon überzeugte mit Spannung, psychologischer Komplexität, genialem Kostümbild – und wurde für 18 Emmys nominiert.

Kann auch die Romanversion selbstständig überzeugen – oder bleibt sie nun lediglich als Nachgedanke im Raum?


© Diogenes

Die Serie genießt ihre Beliebtheit weiterhin. Im Mai ist die deutschsprachige Übersetzung des Romans erschienen und mit einer nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit an enormes Interesse gestoßen.

Doch stand das Buch zunächst im Schatten seines Vorgängers.

Als ich mit der Lektüre des Romans begann und meine Bookstagram-Community darüber unterrichtete (dort teile ich immer mehrere unmittelbare Leseeindrücke), wurden zahlreiche zweifelnde Nachfragen zur Qualität des Buches und der Vergleichbarkeit mit der Serie gestellt – was ich vollständig nachvollziehen kann.

Die Frage: „Aber ist das Buch denn auch so gut?“ kann ich meinerseits mit Nachdruck bejahen.

Ja, es lohnt sich immens, diesen Roman zu lesen – denn er kann einiges, was die Serie schon aufgrund seiner Form nicht bewerkstelligt.


Schachkenntnisse muss man als Leser:in nicht mitbringen. Auch als ehemalige Hobbyschachspielerin, die die Quadrate und die Bewegungsmöglichkeiten der Figuren kennt, gingen die eigentlichen Spielbeschreibungen relativ schnell über mein Niveau hinaus. Als Beth das Spiel im Waisenhaus lernt, ist es auch Leser:innen möglich, über ihre Schulter schauend erste Kenntnisse zu erwerben. Doch sind die Beschreibungen des Spiels grundsätzlich visuell und strukturell klar dargestellt und gut verständlich, dass fehlende Fachkenntnisse nicht stören.

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Die Serienversion beeindruckt mit Elementen wie zum zeitgenössischen politischen Klima passende Farbpaletten, interessanten Kameraeinstellungen und vor allem Beths visueller Evolution zur Schachkönigin. Dies sind Aspekte, die im Buch zwar klar und deutlich thematisiert werden, doch selbstverständlich im Serienformat besser zur Geltung kommen.

Andererseits hält das Buch die psychologischen Feinheiten der Geschichte so treffsicher fest, wie es ein visuelles Medium ohne Innenperspektive einfach nicht bewerkstelligen kann.


Auch wenn die an die Decke des Schlafsaals und später der Spielhalle projizierten Schachbretter in der Serie äußerst wirkungsvoll sind: Tevis beschreibt im Roman meisterhaft die Spannung, die Erwartungen, die in Beths Kopf durchgespielten Strategien, ihre Nervosität im Angesicht starker Gegner – und den Triumph oder die Erschütterung, die auf Sieg oder Niederlage folgt.

Ob man nun die Figuren, wie in der Serie tatsächlich sehen kann oder ihre Positionierung in Textform vermittelt bekommt – der intensive Emotionsspiegel fesselt beiderlei.


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Ebenso werden im Roman Beths Position als Frau und das damit einhergehende Ausmaß ihres Genies, ihrer Sichtbarkeit und ihrer Siege noch klarer zur Geltung gebracht. Sowohl Beths unapologetische Ambition zur Schachkarriere, ihr gewähltes Außenseitertum, die Enttäuschung in der Substanzlosigkeit von ‚Frauenclubs‘, infolgedessen die Positionierung als einzige Frau an der Tür zum ‚Männerclub‘ – diese Etappen führen schließlich zeitgleich zur intrinsischen Selbsterkenntnis und universaler Anerkennung als Meisterin ihrer Disziplin.

Beths Kampf findet nicht nur am Schachbrett, sondern auf allen Existenzebenen einer Frau innerhalb den Strukturen einer patriarchalen Gesellschaft statt.


Die US-Meisterschaft würde in drei Wochen stattfinden;
es war Zeit, dass eine Frau sie gewann.“(149)


Beths Entwicklungsgeschichte ist fesselnd. Ihre Einsamkeit im Waisenhaus, behutsame Isolierung in der Schule, Gefühlslosigkeit bezüglich ihrer Partner und zeitgleich ihre Fixierung auf Schach werden im Buch auf eine feinfühlige Art kommuniziert, die nicht für jeden Zuschauer deduzierbar wäre.

Beths Beziehungen, insbesondere die ungewöhnliche und tiefe Freundschaft mit ihrer Stiefmutter, doch auch die Berührungen mit ihren Liebhabern zeigen je eine faszinierende Facette von ihr. Die Gegenüberstellung ihrer kindlichen Zerbrechlichkeit und der Fixierung auf Schach – zum Nachteil von menschlichen Bindungen – führt zu einer zunehmenden Einsamkeit parallel zur graduellen Stärkung des Selbstbewusstseins. Auch mit inneren Gegnern, ihren eigenen Emotionen, muss Beth sich täglich schlagen.


Der Sex fehlte ihr nicht, der bedeutete ihr fast nichts,
doch irgendwas fehlte ihr.(245)


Dass die Serie sexuelle Fluidität hautnaher behandelt und eine der Figuren prominenter und als homosexuell hinstellt, ändert nicht viel am Kern der Geschichte, da im Roman andere Beziehungen intensiver vonstattengehen. Sex verkauft sich allerdings – das weiß auch Netflix.

Im Roman wird diese Facette in einem eher gemäßigten Ton dargestellt, doch ist auch von Anfang an klar, dass Beth keineswegs an traditionellen Beziehungen oder Bindungen interessiert ist – obwohl sie sich durchaus mit ihrer Sexualität auseinandersetzt.


Tevis bindet das gesamte Potential dieser Geschichte hervorragend ineinander. Die Entwicklungsgeschichte eines starken Individuums, das in sehr jungem Alter mit Verlusttraumata und Suchverhalten konfrontiert wird, die Tücken und Hindernisse einer Existenz als überdurchschnittlich talentierte Frau in einer von Männern dominierten Sphäre, der unerwartet reizende Nervenkitzel und die unglaublich komplexen strategischen Nuancen eines Schachspiels.


„Das Damengambit“ ist ein emotional kluger, psychologisch ausgefeilter, auf einer Sachebene tiefgründiger Roman, den ich uneingeschränkt empfehlen kann.

Hast Du die Serie bereits gesehen oder das Buch gelesen?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!



Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Das Damengambit
Autor:in: Walter Tevis
Übs.:in: Gerhard Meier
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 26.05.2021
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07161-0

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Mehr zum Thema:

Dlf Kultur: Die flinken Hände beim „Damengambit“
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