Die Montagsfrage ist ein Dialog, der allerlei Themen bezüglich diverser Aspekte des Literaturbetriebs umfasst. Die Frage wird wöchentlich gestellt von Antonia bei Lauter&Leise.
Heute geht es um die Funktion und den Wert der Ambivalenz von Protagonisten, Antagonisten, Helden und Antihelden.
Welche Funktionen das Maß an Sympathie mit dem Protagonisten für die Handlung hat – und welche Auswirkungen dies auf anderen Figuren, die Leser:innen und die Rezeption von Literatur im Allgemeinen haben könn(t)en, bespreche ich im heutigen Beitrag.
Die Montagsfrage #142 lautet: Stört es dich, wenn ein Buch einen unsympathischen Protagonisten hat, oder macht dir das gar nichts aus?
Da ich für mein Leben gerne Klassiker des 20. und 19. Jahrhunderts lese, bin ich mehr als vertraut mit traditionellen Schemata, nach welchen ein Romanheld sich entwickeln, diverse Schwierigkeiten überwinden und Herausforderungen gewachsen sein muss, um am Ende für ein moralisch (konventionell) höheres Ziel stehen zu können und das Gute siegen zu lassen.
Diese Formel hat, trotz zahlreicher (argumentativer) Abzweigungen und Variationen, für viele Jahrhunderte ihre Gültigkeit behalten – von Märchen mal ganz abgesehen.
Allerdings werden auch andererseits nicht zur zurzeit, sondern wurden auch durch die gesamte europäische Literaturgeschichte hindurch (und wahrscheinlich auch in anderen Kulturen, die mir jedoch nicht bekannt genug sind, um hier eine Verallgemeinerung vorzunehmen) genügend Antagonisten konzipiert, die ebenso faszinierend sind und für ihre Rebellion, Un- oder Anti-Konventionalität oder ihren Individualismus bewundert werden.
Von düsteren Gestalten mit tragischen Lebensgeschichten wie Raskolnikow, Miss Havisham, Patrick Bateman, hin zu stilisiert-typisierten Figuren wie Jean Des Esseintes oder Dorian Gray: Antihelden haben meistens interessante Hintergrundgeschichten, die mit psychologischer Komplexität ihre Schicksale erläutern und ihre jetzigen Persönlichkeiten begründen.
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Geht man von den obigen Lektüren aus, sind die unsympathischen, ambivalenteren Figuren sogar interessanter, da nicht nur ihre Tugenden und Heldentaten, sondern ihre Fehler, darin ihre Menschlichkeit gezeigt wird – und ihnen oft eine Möglichkeit gegeben wird, sich zu bessern.
Ein Held, der schon von Anbeginn der Erzählung tadellos denkt und handelt, grenzt an monoton und langweilig – da ist eine Erlösungsgeschichte doch viel interessanter.
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Ebenso war das literarische Publikum mit historisch divergierendem Interesse immer an düsteren, gruseligen und angsterregenden Geschichten interessiert. Insofern haben Autor:innen wie Shelley, Lovecraft, Stoker oder Poe ihre Karriere gemacht und sind bis heute unglaublich beliebt.
Was ich allerdings am interessantesten finde, sind ambivalente und authentische Protagonisten. Da Literatur, je moderner, desto vielschichtiger und diverser geworden ist – sowohl bezüglich Konventionen und Polarisierungen als auch der Behandlung von Instanzen wie Gut und Böse.
Das bedeutet: mich interessieren vorrangig Figuren und Protagonisten, die das volle Spektrum ihrer Menschlichkeit zeigen und ausschöpfen. Gerade dass man an unsympathischen Protagonist:innen zuerst die Schwächen, Kehrseiten oder Mängel an der eigenen Persönlichkeit im Spiegel vorgesetzt bekommt und mit diesen konfrontiert wird, ist herausfordernd und interessant.
Dies führt dann auch dazu, sich zu fragen: wenn diese Person eine menschliche Motivation hat und für mich unmoralisch oder unsympathisch handelt – wo liegen meine persönlichen Grenzen und warum ziehe ich sie entsprechend?
Ebenso kann man gegebenenfalls seinen eigenen moralischen und emotionalen Horizont erweitern, schließlich doch Empathie mit einer unsympathischen Figur empfinden – auch wenn diese unsympathisch bleibt. Ferner blickt man kritischer hinter die Kulissen der Erzählwelt und fragt sich gegebenenfalls, ob der:die Autor:in nicht mit Absicht unästhetische Merkmale oder abstoßende Gedanken formuliert und verwendet hat, um Leser:innen irrezuführen?
Zum Schluss helfen ambivalente Figuren auch dabei, eigene Vorurteile zu analysieren. Sie erinnern stets daran, dass die Welt in keinerlei Hinsicht schwarzweiß ist und Dialoge nicht nur zwischen Freunden, sondern auch Opponenten notwendig sind, damit man sich als Individuum weiterentwickelt.
Zumindest ich begegne unsympathischen und/oder ambivalenten Figuren immer mit einer Prise mehr an Grübelei, da ich hinter ihre Kulissen schauen und die Menschlichkeit oder zumindest die Kausalitäten oder Motivation hinter ihren Taten entdecken möchte. Oder aber auch die Mechanik hinter der Grenzüberschreitung in dunklere Ecken der Psyche, die so viele Bücher so faszinierend macht.
Wie sieht das bei Dir aus – fühlst Du Dich zu unsympathischen Protagonisten hingezogen? Sind ambivalente Figuren automatisch auch unsympathisch, oder soll in diesem Fall ein Gleichgewicht herrschen?
Auf Deine Gedanken zum Thema freue ich mich sehr.
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Hallo Sandra,
in deinem Beitrag stecken richtig viele wahre und interessante Gedanken zu den auf den ersten Blick unsympathischen Figuren. Ich habe nicht immer Lust, mich mit solchen Charakteren auseinanderzusetzen. Gerade, wenn ich Stress habe und zum Abschalten und Wohlfühlen lesen möchte, gehe ich ihnen aus dem Weg. Aber trotzdem bleiben oft solche Figuren in besonderer Erinnerung. Und die wenigsten sind ja, glücklicherweise, NUR unsympathisch.
Viele Grüße, Tala
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Hi Tala, vielen Dank für die Resonanz! Dass unsympathische Protagonisten anstrengend sein können und man ab und zu auch einfach ein Wohlfühlbuch braucht, ist eine gute Ergänzung. Ganz selten geht es mir auch so. 😉
Lieben Gruß zurück!
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Hihi, musste gerade schmunzeln über dein „ganz selten“ 🙂
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