Chinesischer Dichter und Essayist Bei Dao wurde 1989 seiner Heimat verwiesen. Heute lebt Bei Dao mit seiner Familie in Hongkong und Peking.
Führt dieser Sachverhalt im Memoir „Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking“ zur Behandlung der Heimatstadt als Protagonisten oder Antagonisten?

Obwohl Bei Dao in China als Symbolfigur des Widerstands gefeiert wird, erlaubt der Dichter im Memoir „Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking“ einen recht objektiven Blick auf seine Person.
Zeilen aus Bei Daos Gedichten wurden beim Volksaufstand im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in der Hauptstadt der Volksrepublik China skandiert.
Bei Dao selbst befand sich zurzeit als Stipendiat in Berlin. Aufgrund seiner in einem Fernsehinterview als regimekritisch eingestuften Aussagen zum Tiananmen-Massaker wurde dem Autor die Rückkehr nach China verboten.
Zwischen 1989 und 1999 lebte er hauptsächlich im amerikanischen Exil. Heute ist Bei Dao als Professor in Hong Kong tätig.
Von einer prominenten Positionierung oder allgemeiner ideologischer Subversion ist in „Das Stadttor geht auf“ kaum etwas zu sichten. Bei Daos Memoiren besitzen bereits in ihrer Form einen von Ordnung und Zucht geprägten Charakter.
In thematisch orientierten Kapiteln wie „Möbel“, „Schallplatten“ oder „Häschenzucht“ schildert der Dichter in Momenten, Anekdoten und Lichtblicken seine Jugend und Schulzeit in Peking und Shanghai.
Beginnend mit den Gerüchen und Geschmäckern der Heimatstadt, führt Bei Dao seine Leserschaft durch die Straßen Pekings in sein Elternhaus, stellt die Plattensammlung und die Literaturkollektion der Eltern Stück für Stück vor.
Leser:innen erfahren aufs Genaueste, welche Möbelstücke im Familienhaus vorhanden waren, wie diese gezimmert worden sind und wie viele Jahre ihre individuelle Lebensdauer betrug.
Über die Kernfamilie hinaus wird aufs Genaueste über die Nachbarschaft, diverse Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen berichtet.
Mehrere Familienfotos sind der Erinnerungssammlung beigefügt – eines davon das Coverfoto, welches den Autoren abbildet.
„Eine Lektüre macht die geheime Kraft des Lebens aus,
fern von Nutzen und Gewinn.
Sie ist wie das Licht auf einem Weg,
das in die Dunkelheit der Menschen scheint.“(167)
Chronologisch betrachtet hüpft die Handlung hin und her: Sie läuft aus unterschiedlichen Perspektiven weiter – mal aus dem Wohnzimmer, mal aus der Schulklasse – und mündet immer wieder im Jahr der Kulturrevolution, 1966.
Zum Beginn des letzten Kapitels können die einzelnen Puzzlestücke endlich zusammengefügt werden, um ein kohärentes Gesamtbild von Bei Daos Familie, Jugendzeit und Milieu in Peking und Shanghai zu gewinnen.
Allerdings hat der Autor die Strecke zum Erkenntniserwerb recht unbequem konstruiert.
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Leser:innen, die in der Geschichte von China im 20. Jahrhundert bewandert sind und sich nicht über Details wie die Nummerierung von Schulen, Geschwistern und Cousins, Benennung diverser Politiker und Literaten oder soziokulturelle Besonderheiten wie das chinesische Schulsystem im Gesamten wundern, werden sich in Bei Daos Schilderungen bestens zurecht finden.
Es kann sogar als ausgesprochen authentisch gelten, ohne Vorwarnung oder Einleitung unmittelbar in Peking einzutauchen. Allerdings erklärt der Dichter gewisse Nuancen mit Sorgfalt und behandelt hingegen andere Besonderheiten als belanglos.
Historiker:innen, die eine Wertschätzung für Einzelheiten mitbringen und zudem die einzelnen Modelle, Marken und Detailbeschreibungen von Fernsehern, Plattenspielern, oder Markenmöbeln spannend finden, wird Bei Daos Jugendzeit ebenso faszinieren können.
Kritische, wichtige Momente wie die Zeit der Verfassung der Literaturzeitschrift „Heute“, die auf Drang der Regierung 1980 eingestellt wurde oder seine Rolle als Begründer der Initiative zur Freilassung von Wei Jingsheng werden allerdings nur nebenbei oder kaum angesprochen.
Anfang und Ende der behandelten Zeit sind in „Das Stadttor geht auf“ nämlich so glasklar etabliert wie es ein Ariadnefaden zu wünschen wäre. Daher bestünde auch dringende Notwendigkeit einer Fortsetzung – denn Bei Dao ist eine unglaublich interessante und für die chinesische Kulturgeschichte wichtige Person.
Allerdings erschließt sich diese Erkenntnis nicht zwangsläufig aus den Memoiren selbst, sondern entweder aus Vorkenntnis des Autors oder ergänzenden Recherchen zu „Das Stadttor geht auf“…
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Es muss vorab ebenso klargestellt werden, dass hier weder ein Roman noch eine Autobiografie mit traditionellem Spannungsbogen, sondern ein zumindest scheinbar recht willkürlicher Tanz zwischen spannenden Lichtblicken, düsteren Erinnerungen und lakonischen Aufzählungen aus dokumentierten Ereignissen vorliegt.
Fragmente wie die Entdeckung verbotener Bücher auf dem Dachboden illustrieren Bei Daos Weg zur Erkenntnis der Notwendigkeit zum Widerstand:
„Offensichtlich lebte unsere Familie in zwei kulturellen Welten […].
Die eine Welt stand für den Status quo und die Mainstream-Kultur,
die andere für Gesetzeswidrigkeit und Verbot.
Von dem Tag an, da ich die Geheimnisse der Dachkammer
entdeckte, begann auch mein Doppelleben.“(175)
Diese Momente assoziiert der Autor im späteren Verlauf mit familiären Beziehungen und dem elterlichen geistigen Erbe.
Ebenso von Interesse ist die – zumindest augenscheinliche – Objektivität bei der Selbstwahrnehmung: Bei Dao fügt sich aus Angst, Bedarf an Kameradschaft oder Naivität oft genug dem herrschenden Regime. Sein Protest ist weder aktiv noch aggressiv.
Auch ist im Memoir keine explizite Kritik am herrschenden Regime zu entnehmen – außer einer absolut sachlichen Dokumentation der willkürlichen Gewalt, die Nachbarn und Verwandten zu Teil wird, sollten sie sich weigern, mit sofortiger Auswirkung allerlei Befehle seitens staatlicher Institutionen zu befolgen.
Sicherlich liest man hier zwischen den Zeiligen einiges an Emotionen, Bedrückung, Ungerechtigkeit und reaktionären Gedanken heraus.
Bei Daos sachlicher Stil lässt gewisse Momente als besonders makaber erklingen: zum Beispiel große Hungersnot in sachlichen Beschreibungen, die weder auf individuellen existenziellen Sorgen noch kollektiver Unmut, sondern auf der einzelnen Dokumentation der Essensmengen basieren.
Sogar emotional intensive Episoden wie die Hasenzucht oder der schulische Machtkampf, die mit tragischen Ereignissen versehen sind und mit Sicherheit emotionale Narben hinterlassen haben – auch ihr Nachhall verstummt in der Gesamtmenge an Sachberichten und Neutralität.
Das Memoir verbleibt ohne richtigen Handlungsbogen und Mittelpunkt – wie ein willkürlich zusammengestelltes Fotoalbum ohne chronologische oder thematische Narrative.
„Das Stadttor geht auf“ ist für geduldige, an chinesischer Geschichte interessierte Leser:innen durchaus zu empfehlen. Allerdings sollten die oben erwähnten inhaltlichen Besonderheiten beachtet und vorab die Leseprobe zu Rate gezogen werden.
Da Bei Dao allerdings als Repräsentant der ‚Nebeldichtung‘ bekannt war, sollte es kaum überraschen, dass auch seine Jugendmemoiren von einem ständigen Nebel umhüllt werden, die den Blick auf Geschichte als Historie nur durch eine verschwommene Brille zulässt.
Kanntest Du den Dichter Bei Dao bereits? Welche chinesischen Autor:innen sind für Dich besonders lesenswert?
Ich freue mich auf Deine Meinung zum Thema.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking
Autor:in: Bei Dao
Übs.:in: Wolfgang Kubin
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 27.09.2021
Verlag: Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27072-5
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