Wo nur Vernichtung aller Hoffnung bestraft. Ava Farmehri: „Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen“

Kanadisch-iranische Autorin Ava Farmehri reißt Leser:innen mit ihrem neuen Roman in ein stilistisches Fegefeuer von ungewöhnlichster Beschaffenheit.

Wie fühlt es sich an, in einem iranischen Gefängnis auf die Todesstrafe zuzugehen – und welche Familienmitglieder hat die blutjunge Protagonistin wirklich auf dem Gewissen?


© Edition Nautilus

Bereits der Unheil verkündende Titel „Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen“, der in der Originalsprache noch um einiges gelungener ist (Through The Sad Wood Our Corpses Will Hang, 2017), deutet auf eine finstere Lektüre hin.

Der erste Satz verdeutlicht diesen Eindruck nur.

Teheran, 1999. Sheyda sitzt im Gefängnis und wartet auf die Todesstrafe – sie habe ihre Mutter getötet.

Die 20-Jährige Protagonistin, deren Name ‚liebeskrank‘ bedeutet, ist in vielerlei Hinsicht eine äußerst ungewöhnliche Figur – und gleichermaßen eine unsympathische Person.

Ihre subjektive Transparenz, ihre unapologetische Leidenschaft und ihr argumentativer Mut bringen sie in ihrem Umfeld in prekäre Situationen, sei es zu Hause, in der Schule oder im Erwachsenenleben – von welchem Sheyda kaum kosten kann, ehe sie verhaftet wird.


Sie werden mich töten.“(11)


Das Buch ist stilistisch ebenso ungewöhnlich wie seine Heldin – die Erzählung erinnerte mich vom Ton her an „Die Metaphysik der Röhren“ von Amélie Nothomb, und für eine kurze Zeit klang die schelmisch-dämonische Stimme von Oskar Matzerath aus den Zeilen heraus. Denn dass es sich um eine Antagonistin handelt, wird Leser:innen zu Beginn des Romans mehr als überzeugend vermittelt.

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Sheyda schildert ihre Kindheit und Jugend, ihre Andersartigkeit, die sie als Einzelgängerin herausstechen lässt – ihre skrupellosen Entscheidungen auf den Kosten anderer, um die eigenen Träume von Liebe und Freundschaft zu erfüllen.

Weder Loyalität zwischen Familienmitgliedern noch Respekt vor Älteren scheint Sheyda zu erkennen – und obwohl ihr Therapeut die junge Frau als hochintelligent und fantastisch geneigt abwinkt, werden ihre Gedanken, Fantasien und Kreationen immer düsterer.


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In Bezug zu ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit wird jedoch ebenso schnell klar, dass Sheyda es weder als Mädchen noch als Frau leicht im Leben hatte – gegen ihre Eltern, ihre Lehrer, ihre Gesellschaft hatte sie bereits als junges Mädchen zu kämpfen. Schon aufgrund des Ortes und der Zeit, in die sie geboren wurde: Teheran, 1979.


Wer sich näher über iranische Geschichte, politischen Terror und alltägliche Gewalt in der von Revolutionen geprägten Gesellschaft informieren möchte, kann beispielsweise die Sachbücher von Ervand Abrahamian* studieren.

Über Staatsgefängnisse wie das Evin-Gefängnis in Teheran ist allerdings grundsätzlich wenig bekannt – bereits das Fotografieren des Geländes könne lebensgefährlich werden (SZ).

Kein Wunder, dass Farmehri anonym bleiben möchte.

Allerdings wird die wahre Wucht dieses Romans durch die stilistische Umsetzung realisiert. Mit allen Empfindungen spielend legt sich diese finstere und doch zauberhafte Erzählwelt auf solch eine Art und Weise in die Sinne seiner Leser:innen, dass die inhaltlichen Nuancen vor den stilistischen Feinheiten gar verblassen – auch wenn es um Leben und Tod geht.


Die Nacht zog ihren samtenen Schleier über die Welt. Kein Stern stand am Himmel.
Der Wind trug die Geheimnisse der Dunkelheit davon.“(51)


Nach und nach häutet sich die Wahrheit hinter der Wahrheit und Sheydas Sünden erscheinen immerzu menschlicher zu sein: zu lieben, zu glauben, zu hoffen – und dem Tod all dieser Empfindungen nachzutrauern.

Schließlich ist es ihre eigene Sehnsucht nach dem Tod, die den düsteren Kern des Waldes ausmacht; ihr Geständnis, innerlich fortwährend zu weinen. Die emotionale Dunkelheit, die sich hinter der ernsthaften Ausgangssituation entpuppt, ist dann doch noch um einiges erschreckender als die Fassade des Gefängnisses, in dem Sheyda sich befindet.


Ich beobachtete, wie meine Handgelenke dunkelrote Tränen weinten, und spürte,
wie mich eine tröstliche Benommenheit umfing.
Kurz bevor ich bewusstlos wurde, sah ich Mustafas Gesicht vor mir,
seine tiefschwarzen Augen.“(151)


Es ist unglaublich beeindruckend, wie Farmehris Erzählung inhaltlich (zumindest scheinbar) querbeet verläuft und stilistisch in einer sicheren Spur bleibt.


Am Ende ist sowohl eine gewisse Zerstreuung als auch eine sanfte Wortwahl notwendig, um die tatsächliche Wahrheit über Sheydas Taten und ihrem endgültigen Schicksal zu verkraften.

Denn auch diese sind von tiefster Schönheit und dunkelster Finsternis gezeichnet.

Auf Deine Gedanken zum Thema in den Kommentaren freue ich mich sehr.


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen
Autor:in: Ava Farmehri
Übs.:in: Sonja Finck
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: Oktober 2020
Verlag: Edition Nautilus
ISBN: 978-3-96054-234-6

Beitragsbild © Annica Sörén / pexels.com.


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Mehr zum Thema:

Dlf Kultur: Selbstermächtigung im Iran
HKW Internationaler Literaturpreis 2021: Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Rezension zum Roman bei literaturleuchtet


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