Idyllische Brutalität: zwischen Gerstenacker und Großstadt. Nataša Kramberger: „Verfluchte Misteln“

Slowenische Schriftstellerin, Kolumnistin und Öko-Landwirtin Nataša Kramberger hat bisher sowohl Romane als auch Essaysammlungen veröffentlicht. In ihrem neuesten Roman untersucht sie die grundlegende Divergenz von Stadt und Land.

Die autobiografisch inspirierte Gradwanderung ihrer Protagonistin in den Untiefen organischer und anorganischer Existenzwelten – hin -und hergerissen zwischen Gerstenacker und Großstadt – stellt thematisch einiges zum Grübeln in den Vordergrund. In welcherlei Hinsicht überzeugt der Roman – und wo kommt das Buch entscheidend zu kurz?


Buchcover Kramberger "Verfluchte Misteln"
© Verbrecher Verlag

„Verfluchte Misteln“ (Primerljivi hektarji, 2018) handelt von einer in Berlin lebenden Schriftstellerin mit slowenischen Wurzeln, die eine Kehrtwendung in ihrem Leben macht und den Bauernhof ihrer Mutter übernimmt.

Die Handlung ist mit diversen autobiografischen Zügen ausgestattet.

Krambergers Romanprotagonistin übernimmt den Bauernhof der Mutter, während die Autorin ebenso regelmäßig Berlin verlässt, um mit ihrem Künstlerkollektiv einen biodynamischen Bauernhof in Jurovski Dol zu betreiben.

Authentizität in der Materialwahl wäre in dieser humorvoll gestalteten Geschichte daher bereits im Vorfeld gesichert, da die Autorin inhaltlich ziemlich bis ganz genau weiß, worüber sie spricht.

Darüber hinaus weiß Kramberger allerdings auch, wie sie mit dem Fein- und Grobkorngefüge ihrer Erzählung umzugehen hat.

Es sind zahlreiche Facetten des Inhaltlichen positiv hervorzuheben, zunächst die Balance zwischen Abenteuer und Introspektive: der Protagonistin wohnt weder Scheu oder Scham inne, da sie sich sowohl emotional als Individuum mit Stärken und Schwächen gezeigt wird als auch den Humor und die Ironie in ihrer eigenen Situation erkennt.

Ebenso analytisch und klug werden die Situationen, in die sie sich im Laufe der Handlung begibt, behandelt.

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Über die zu Beginn hervorstehende Situationskomik hinaus kommt im Laufe der Erzählung auch eine ausgeprägte Charakterkomik zur Geltung: in denjenigen Episoden, wo die junge Frau den offensichtlich schwierigen Weg zur Bäuerin frohlockend auf sich nimmt und trotz einer direkten Konfrontation mit Wind und Wetter, skeptischen Dorfbewohnern und physischen Grenzen des eigenen Körpers mutig weiter geht.

Der erste Eindruck ist sogar vorwiegend von Charakterkomik geprägt.

Ebenso schnell verwandelt sich die komödiantische Essenz der Geschichte jedoch in existenzialistische Reflexion – sobald die Protagonistin ihre persönlichen Ängste mit der wachsenden Unsicherheit um ihren Erfolg als Bäuerin mit der ebenso belasteten bestehenden Karriere als Journalistin und Schriftstellerin vermischt.


Ich sag’s dir. Ich sag dir, was der Müller sagen wird.
Frau Schriftstellerin, wird er sagen, sie wollen Bäuerin sein?!.“(44)


Die Protagonistin wird von einer immer länger werdenden Liste an Aufgaben zur Instandsetzung ihres landwirtschaftlichen Betriebs schlagartig überfahren. Mit einer bewundernswerten Resilienz schultert sie die auf sie zukommenden Herausforderungen – und erntet nach und nach klitzekleine Respektkrümel von ihrer Gemeinde.

Der Kern und die Seele der Figurenwelt versteckt sich auf den zweiten Blick in der Dynamik zwischen der Protagonistin und ihren durch einen verstärkt idealisierten Nostalgiefilter dargestellten Großeltern.


So wird die Großmutter als junges und furchtloses Mädchen, der Opa als alternder doch fingerfertiger Mann geschildert, erstere als regelmäßig in halsbrecherische Abenteuer verwickelt, wie man sie nur im ländlichen Milieu vorfinden kann.


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Es sind eben nicht die kritischen Schilderungen vom Park-Mord, der direkt neben der Berliner Wohnung der Protagonistin stattfindet – auch wenn Kramberger selbst aktiv an den als „Fridays for Future“ bekannten Klimastreiks teilnimmt. Auf einer Prioritätenskala der Handlungsorte fungiert Berlin nur als Nebendarsteller.

Obwohl durch die Desillusionierung des linksliberalen Berliner Künstlermilieus ein spannender Diskurs angeschnitten wird, fallen diejenigen Episoden in der Erzählung weniger interessant aus. Faszinierend, drohend, multifacettiert und letztendlich Star der Geschichte ist das ursprünglich als Flucht- und Selbstentdeckungsort erscheinende und sich später als wahrer Gegner entpuppende Heimatdorf.


[…] aber unsere Großmutter, unsere einzige noch lebende Oma, hatte keine Zeit,
in Luftschutzräumen rumzusitzen, Mutter hatten gesagt, sie wollen
an diesem Morgen die Äpfel zum Pressen ernten, und überhaupt.“(60)


Kramberger macht auf die Seelenlosigkeit der Stadt aufmerksam und verlässt diese zeitgleich, womit eine räumlich-semantische Polarisierung geschaffen und das neue Milieu im ländlichen Slowenien als existenzielle Nonplusultra gültig gemacht wäre.

Doch ist der fortwährende Kampf nicht nur gegen wilde Tiere, Schädlinge im Garten und Sommerdürre von einer unüberwindbaren und endlos erscheinenden Schwere geprägt, die eine hoffnungsvolle Weitsicht mehr und mehr verhindert.


Auch die von Menschenhand geschaffenen Bürokratiebarrieren wollen für den Aufbau eines ökologischen Bauerhofs keinen Millimeter Kulanz gewähren – und so verirrt sich die Protagonistin immer tiefer in die undurchschaubare Welt von Listen, Formularen, Sachkundeausweisen und Feldschlägen.

Ich erinnerte mich im letzten, immer absurder und aussichtsloser werdenden Dialog des Romans nur noch an Asterix‘ Suche nach Passierschein A38.

Dahingehend fand ich auch den Titel im Original gelungener, da dieser direkt mit dem mutmaßlichen Endboss der Handlung, der Bruttofläche, zusammenhängt. Allerdings reichen meine Slowenischkenntnisse bei weitem nicht für Verbesserungsvorschläge aus.


Zeitgleich wohnt der gesamten Konstruktion eine Trauer, ein Hauch des Vergangenen und nimmer wiederkehrenden inne – denn die Erinnerungsfetzen aus den Leben der Großeltern und die Konfrontation mit den nun vor ihr stehenden Ruinen der zahlreichen Ecken und Räume, die einst Haus und Garten ausmachten, überwältigen die Protagonistin zeitweilen am stärksten.


Die Erkenntnis, dass ich nie wieder unter Tausenden Großvaters Schnaps erkennen würde, kam erst später, ohne Vorwarnung […]: Es war ein eiskalter Morgen, ich kochte Lindenblütentee, suchte das Fläschchen, im Fläschen war nur noch ein Schluck und…(80)


Die Komplexität der Anregungen und Reflexionen der Autorin, ihre Authentizität gegenüber ihren Figuren und Leser:innen, die stilistische Bravour in Krambergers Dialogen und Handlungen – alle diese Aspekte gilt es, hervorzuheben und zu bewundern.

Obgleich es sich um ein Sammelsurium an Kontrasten, Eindrücken, Individuen und originellen Ansätzen handelt, welches sich als selbstständiges Stück Literatur durchaus behaupten kann, wurde das Ende von „Verfluchte Misteln“ viel zu abrupt in den Raum (oder eher ins Feld) geschleudert, trat allzu unvermittelt ein – und ließ so viel potenzielle Energie im Raum stehen, sodass der bisher entstandene Gesamteindruck durch den Abbruch stark durcheinandergewirbelt wurde.


Mit diesen Bedenken rate ich denjenigen, die beispielsweise „Unter Leuten“ von Juli Zeh oder „Wetter“ von Jenny Offhill gerne gelesen haben, trotzdem zur Leseprobe.

Eine einzigartige, analytische und doch eklektische Erzählerinnenstimme besitzt Kramberger nämlich auf alle Fälle.


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Verfluchte Misteln
Autor:in: Nataša Kramberger
Übs.:in: Liza Linde
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum:
Verlag: Verbrecher Verlag
ISBN: 9783957324931


Verfluchte Misteln
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Mehr Literarische Abenteuer:

Wo nur Vernichtung aller Hoffnung bestraft. Ava Farmehri: „Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Die blutende Libido entstellter Weiblichkeit. Leïla Slimani: „All das zu verlieren“

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