Literarische Abenteuer. Michail Bulgakow: „Teufeliaden“

Wenige Autoren sind imstande derart intensive und widersprüchliche Gefühle in ihren Lesern auszulösen wie der russische Satiriker Michail Bulgakow (1891–1940). Bulgakows Texte sind stilistisch wie ein kombinierter Extrakt aus den Auren von Gabriel Garcia Marquez, Franz Kafka und Matias Faldbakken.

Der Erzählband „Teufeliaden“ ist der perfekte Einstieg in Bulgakows Genialität – denn ein zart besaiteter Leser wird ihn nur in geringen Dosen aufnehmen können.


© Penguin Random House

Bulgakows Erzählungen sind humorvoll, scharfsinnig, unerwartet, teils vollständig absurd – und immer in einem köstlichen Stil formuliert.

Der Autor porträtiert satirisch die zeitgenössischen Umstände im Russland der 1920er Jahre und nimmt zu keiner Stelle ein Blatt vor den Mund.

Der Erzählband „Teufeliaden“ beinhaltet vier kurze und zwei längere Erzählungen Bulgakows aus den Jahren 1922–1925.

Diese zeigen den bürokratischen Apparat, die sozialistische Gesellschaft und das alltägliche Elend der russischen Gesellschaft mit Sorgfalt, Finesse – und Biss.


„“Wo ist das Beschwerdebüro, Genosse?“
„8. Etage, 9. Korridor, Wohnung 41, Zimmer 302“,
antwortete die Teekanne mit weiblicher Stimme.
1


Schilderungen über sich in Stockwerken und Räumen von Behörden verlierenden Beamten, Bettlern und Straßenkötern sowie wohlhabenden Professoren und Chirurgen werden in Bulgakows Geschichten grundsätzlich mit der gleichen, humorvoll-kritischen Feder formuliert – da es sich am Ende in allen Fällen um menschliche Wesen handelt.

In diesem Sinne erfahren hochrangige Beamte des Öfteren, dass die ihnen zugesprochene Position lediglich eine Illusion ist und sofort zunichte gemacht werden kann. Obdachlose werden in zauberhafte Traumwelten transportiert, in denen die Nutzlosigkeit ihrer neu gewonnenen Reichtümer ebenso schnell wieder klar wird.

Sogar aus einem Straßenköter könnte nach einer fantastischen, grausigen, unmöglichen Operation nicht nur ein Mensch, sondern ein würdevoller Herr werden – wenn er nur ein wenig an seinen Tischmanieren arbeiten könnte.


12. Januar. Er steckt die Hände in die Hosentaschen.
Wir versuchen, ihm das Fluchen abzugewöhnen.2


Die stellenweise surrealistische, kulturpessimistische und höchst misanthropische Erzählung darüber, wie ein Tier zum Menschen und sofort zum Schweinehund wird – mit einer weniger subtilen philosophischen Fragestellung darüber, was die Menschlichkeit eines Menschen eigentlich ausmacht – hat mit Sicherheit die stärkste Auswirkung von allen Kurzgeschichten im Band. Insbesondere diese letzte Erzählung ist mit Vorsicht zu verzehren.

Als Höhepunkte verbleiben für mich dennoch die „Teufeliade“ und „Die verhängnisvollen Eier“. Ersteres ist in wenigen Worten als satirisch-zynische Interpretation von Kafkas „Der Prozess“ im sowjetischen Milieu und dementsprechenden Stilisierungen zusammenzufassen. Währenddessen dehnen die „Eier“ den Rahmen des realistischen am weitesten aus, denn in dieser Geschichte wird eine nahezu apokalyptische Ereignisfolge ausgelöst – und zwar durch einen einfachen menschlichen Fehler.


Der Beginn der entsetzlichen Katastrophe muß auf diesen
unglückseligen Abend datiert werden,
ebenso wie als Urheber der Katastrophe Professor
Wladimir Ipatjewitsch Persikow anzusehen ist.3


Auch zu erwähnen ist an dieser Stelle die hervorragende Übersetzung. Ich habe zwar nur Grundkenntnisse im Russischen und Bulgakow bisher im Estnischen und Englischen gelesen, doch sind anhand dieser Vergleichspunkte einige Kontextualisierungen möglich, und hier steht für mich außer Frage, dass der Stil des Autors sowie der Wortlaut vieler für die Zeit und den Ort sehr spezifische Ausdrücke vom Übersetzer haargenau getroffen und übertragen worden sind.

Wer die „Teufeliaden“ bereits gelesen und genossen hat, dem ist Bulgakows Roman „Meister und Margarita“ ebenso nahezulegen, in dem der Teufel höchstpersönlich seinen Unsinn treibt und diverse interessante Individuen zum Wahnsinn bringt. Wer den Erzählband allerdings noch nicht kennt, dem wird hier der perfekte Einstieg in Bulgakows Werk angeboten.

Ich gebe an dieser Stelle eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Welche hervorragenden Satiriker würdest Du empfehlen, und wer ist Dein Lieblingsautor russischer Herkunft?

Ich freue mich auf den Austausch in den Kommentaren!

Hier geht’s zur Leseprobe.



1 – Eine Teufeliade. S. 33–79.
2 – Hundeherz. S. 185–297.
3 – Die verhängnisvollen Eier. S. 95–184.

Bibliografie:

Titel: Teufeliaden
Autor: Michail Bulgakow
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 18.04.2006
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-62094-7

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  1. 2009 hab ich mir in Kursk im Antiquariat eine Sammlung mit Kurzgeschichten aus der Sowjetzeit gekauft, darunter auch 2 von Bulgakow. Ich kannte Meister und Margarita schon, dennoch hing ich einfach unglaublich oft über dem Wörterbuch, weil ich (mehr als sonst) an meinem Russisch zweifelte… Was passiert gerade? „Ein Rotes Quadrat geht in eine Konditorei…“ – Moment, das kann nicht stimmen. (Hab ich jetzt erfunden, aber so in dem Stil waren die Gegebenheiten). Außer Meister und Magarita hab ich allerdings nur Die weiße Garde auch auf Deutsch gelesen, so dass ich nicht mehr beurteilen kann, ob ich die Erzählungen auch gut fand, oder nur verwirrend…
    Zum Meister gibt es übrigens auch eine der schönsten Hörspielproduktionen in deutscher Sprache, die eine tolle Balance findet zwischen Originaltext, moderaten Verdichtungen und Geräuschkulisse…

    Vll interessiert dich ja auch mein kleiner Meister-Essay: https://soerenheim.wordpress.com/2018/11/26/der-goettliche-witz-zu-bulgakows-meister-und-margarita/

    Gefällt 1 Person

  2. Klingt super, werde ich auf jeden Fall lesen. „Meister und Margarita“ fand ich ganz hervorragend.

    Gefällt 1 Person

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