Zitateverzehr, 2: Thomas Mann

Deutscher Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann hat zahlreiche Romane veröffentlicht, die bis dato auf der deutschen und internationalen Literaturlandschaft beliebt und bekannt sind. Dazu gehören meine Lieblinge von Mann: Buddenbrooks (1901) und Zauberberg (1924).

Auch bei diesem Autor ließe sich umfangreich über fast alle Themen des menschlichen Spektrums grübeln, doch möchte ich heute einige Zitate bezüglich der Begriffe Glück, Pflicht und Neigung verzehren.

Da zwischen den zwei zu behandelnden Romanen ein Vierteljahrhundert liegt, ist zu erwarten, dass die Thematik und Methodik des Autors sich weitestgehend verändert hat, ebenso handeln die Bücher konkret von unterschiedlichstem Stoff. Buddenbrooks ist eine Familiengeschichte: Jeder von uns kann sich in einer von den zahlreichen detailreich geschilderten Figuren wiederfinden. Zauberberg jedoch ist eine Individualgeschichte, die Elemente der Nebenfiguren dienen nur zur Illustration des Werdegangs und der Gedankengänge der Hauptfigur.

Buddenbrooks als Roman des neuen Jahrhunderts und Generationen übergreifende Geschichte ist ein kultureller Vermittler zwischen neuen und alten Werten, da der innere Zwiespalt vieler Figuren zwischen Pflicht (Familie) und Neigung (individuelles Glück) besteht.

Die Brüder Christian und Thomas repräsentieren zwei Hälften dieser Ideologie und die Nuancen ihrer Beziehung sind äußerst interessant.

Die Idee des Individuums als relevant oder wichtig wird von den älteren Generationen vollständig unterdrückt, denn

„[…] wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen.“

Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman: Amazon.de: Mann ...Am tiefsten fließt die individualistische Ader jedoch in Christians und Thomas‘ Schwester Antonia ‚Tony‘ Buddenbrook, die zwar sehr stolz auf ihre Herkunft und ihre familiäre Zugehörigkeit ist und sich – mit variabler Beständigkeit – in ihrer Rolle als Glied der Familienkette zu verwirklichen versucht, dennoch das schwarze Schaf der Buddenbrooks bleibt und den sozialen Status beizeiten gar gefährdet.

Das Thema Glück und der entstehende Zwiespalt wird mit den jüngeren Generationen zunehmend thematisiert, wohingegen der Familienvater Konsul Johann Buddenbrook sich noch zu Beginn des Romans voll und ganz dem Willen seines eigenen Vaters fügte und nur für die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Familieneinheit interessierte.

In Thomas‘ Dialog mit Tony werden dieses Pflichtbewusstsein und der damit einhergehende Zwiespalt hervorragend ausgeführt:

Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten: fest, tief. Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß…

In diesen Sätzen ist die große Problematik des Glücks zu finden, die später anhand von Hanno wieder aufgerufen wird: Es ist eine bewusste Entscheidung, das Glück zu sehen,  zu erkennen und festzuhalten.

Tonys Unfähigkeit zu einem glücklichen Leben ist sowohl von ihrer Persönlichkeit als auch einer Reihe an unglücklicher Zufälle bedingt – doch laut Johannes und Thomas stünde es in ihrer eigenen Macht, sich aktiv für das Glück zu entscheiden, unabhängig ihrer Umstände.

Dass anhand des ersten Zitats die Fähigkeit für solche bewusste Entscheidungen durch das Wissen des eigenen Status als „Glied in einer Kette“ bekräftigt, wird bei jedem Familienmitglied gleichermaßen vorausgesetzt, obwohl eigentlich nur die Hälfte der Familie die Existenz als Einzelwesen gerne aufgibt.

Paradoxerweise scheinen die „Unglücklichen“ gerade diejenigen zu sein, die ihrer Neigung folgen, ihre eigenen Wünsche bevorzugen und der Familieneinheit den zweiten Rang in ihren Entscheidungen verleihen. Ob das die Entscheidung des Autors oder eine objektive Wahrheit ist, bleibt dem Leser in seiner Interpretation zu entscheiden.

***

Einen ganz anderen Fokus hat Zauberberg, die Geschichte des jungen Hans Castorp, der während seines siebenjährigen Aufenthalts im Davoser Sanatorium auf dem sogenannten ‚Zauberberg‘ nicht nur mit dem Ausbruch aus familiären Bänden – denn an dieser Stelle wird eine solche Handlung auf einmal positiv aufgeladen – sondern auch mit existentialistischen, philosophischen, ästhetischen, psychopathologischen und sogar okkulten Themen auseinandersetzt.

Der Zauberberg: Roman (Fischer Klassik): Amazon.de: Mann, Thomas ...Der Roman soll als ein ironischer Bildungsroman geschrieben worden sein, denn in sich werde eigentlich der moralische Verfall von Hans Castorp beschrieben.

Nicht nur eine philosophische, anatomische und biologische Bildung anhand der Lektüre von diversen wissenschaftlichen Büchern in der Balkonloge seines Zimmers, sondern gerade eine hautnahe Auseinandersetzung mit diversen Extremzuständen eines Menschen bilden Hans zu einem echten Individuum aus.

Die Konfrontation mit dem Tod – spezifisch mit der ungeschönten körperlichen Dimension des Todes, filigran verziert mit Detailbeschreibungen von pfeifenden Lungen, quellenden Augen und schrecklichen Schreien – führt schließlich zur individualistischen Emanzipation von Hans Castorp, und meines Erachtens entwickelt er sich im Sinne einer progressiven Mentalität wesentlich weiter als die Mitglieder seiner Familie es ihm jemals ermöglicht hätten.

Zu beachten ist das Vorhandensein von Mentoren, die außerhalb der Familienkreise stehen und deren sozialer Status eher fragwürdig ist – doch das sind nicht mehr die herrschenden Werte der Gegenwart in diesem Roman.

Der große finale Gedanke von Castorp fasst den ganzen Roman ausdrücklich zusammen und bietet eine gute Interpretation dessen, was ein junger Mann, der der Natur und dem Tod gleichzeitig ausgesetzt wird, für Gedanken haben könnte:

Aber die unvernünftige Liebe ist genial, denn der Tod, weißt du, ist das geniale Prinzip, […] und er ist auch das pädagogische Prinzip, denn die Liebe zu ihm führt zur Liebe des Lebens und des Menschen. So ist es, in meiner Balkonloge ist es mir aufgegangen, und ich bin entzückt, daß ich es dir sagen kann. Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg!“ (Zauberberg)

Mann folgt der Tradition von Aristoteles und Nietzsche, indem er die Genialität der Krankheit thematisiert: Je näher Castorp den sterbenden Patienten im Sanatorium kommt, desto mehr entdeckt er in ihnen eine Erhabenheit und eine Ehrwürdigkeit. Obwohl diese Gefühle sich mit dem Tod seines Vetters wieder in eine sachliche Analyse von körperlichen Prozessen verwandeln, ist Hans von der ‚Unvernunft‘ als Prinzip der Genialität überzeugt.

Der oben erwähnte Zwiespalt wird auch hier angesprochen, und genau gegenteilig der Leitsätze von Buddenbrooks wird nun der Ausbruch in das ‚ungewöhnliche‘ dem ‚braven‘, also dem Pflichtbewusstsein, gegenübergestellt. Das individualistische geht hier als Sieger davon, und wenn man diese Zwei Zitate nebeneinander reflektiert, sieht der optimistische Mann-Leser seine ideologische Entwicklung im Spiegel des Gesamtwerks.

Wie bereits bei Hesse gezeigt, ist es den großen Klassikern der Ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigen, dass die Romane gemeinsam eine übergreifende Geschichte erzählen und das Menschenbild des Autors preisgeben. Scheinbar verbindet beide Fälle ein gradueller Ausbruch aus Traditionellen grenzen, zugunsten der Individualität –

(obwohl Hesses letzter Protagonist Josef Knecht eigentlich gerade in seiner Position als Lehrer, also Bindeglied einer Kette, allerdings einer Kette von geistigen Werten und deren Vermittlung, zu sich selbst findet.)

Können wir daraus irgendwelche allgemein-existenzielle Schlüsse ziehen? Haben diese Romane von Thomas Mann doch mehr miteinander zu tun als ursprünglich erahnt? Vielleicht. Doch dies ist eine offene Frage für jeden Leser selbst 😉

Was ist euer Lieblingsroman von Thomas Mann? Denkt ihr, dass die ‚alten‘ Klassiker für unsere Zeit noch eine Relevanz besitzen, oder bleiben diese Romane für immer ‚zeitlos‘? Ich freue mich auf eure Kommentare. Mehr Zitateverzehr: Hermann Hesse (Fotos: 1 2)

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  1. Hallo Sandra,
    ein Literaturblog, der Thomas Mann im Angebot hat, ist eigentlich schon eine Seltenheit. Dass bisher niemand auf diesen „Zitatverzehr“ reagiert hat, kann ich trotzdem kaum glauben. Thomas Mann gilt ja vielen (u.a.) wegen seiner Sprache als schwierig und oder gar als „veraltet“. Das finde ich aber nicht.

    Weil ich die Buddenbrooks gerade wieder mal mit Begeisterung gelesen habe, mein Eindruck also noch ganz frisch ist, nehme ich die Gelegenheit gerne wahr, auf Deinen Beitrag zu antworten. Interessant finde ich immer, wie unterschiedlich man einen solchen Roman lesen kann.

    Deine Fragestellung nach dem Glück im Spannungsfeld von individueller Neigung und Pflicht ist (neben der Verfallsproblematik) tatsächlich ein zentrales Thema des Romans. Es sind m.E. aber nicht unbedingt Zufälle, die Tony Buddenbrooks Lebensglück verhindern, sondern zunächst einmal eine katastrophal falsche Entscheidung: nämlich die Ehe mit Bendix Grünlich. Ab da läuft alles schief. Jedenfalls für Tony.

    Zwar liebt sie den nicht standesgemäßen Medizinstudenten Morten. Trotzdem beugt Tony sich der Familienraison. Ich sehe sie deshalb auch nicht als das schwarze Schaf der Familie. Spätestens nach Grünlichs Bankrott, der ihn obendrein als Mitgiftjäger enttarnt, ist die Fehlentscheidung für jeden offensichtlich. Und daraus ergibt sich eine fast zwangsläufige Serie weiterer Fehlschläge, denn als geschiedene Frau bekommt Tony keine adäquate zweite Chance mehr. Es folgt die ebenfalls unglückliche Ehe mit Herrn Permaneder, schließlich ist Tony zweifach geschieden und rutscht dann sozusagen als fünftes Rad am Wagen in ihre „dritte Ehe“ – als Schwiegermutter des fast gleichaltrigen, aber ebenfalls nicht ganz koscheren Hugo Weinschenk. Auch das geht nicht gut aus. Man fragt sich beim Lesen die ganze Zeit, was wohl gewesen wäre, wenn Tony ihrer ersten und einzigen Liebe gefolgt wäre.

    Tonys Geschichte, die sich ja durch den ganzen Roman zieht, wirft die Frage auf: wie kommen solche (Fehl) Entscheidungen eigentlich zustande? Und welche Folgen haben diese Entscheidungen dann? Beide Aspekte untersucht, bez. erzählt Thomas Mann ungemein gründlich. Aber sind es wirklich nur unglückliche Zufälle, die sich in Tonys Biografie häufen? Oder zieht die erste falsche Entscheidung nur weitere falsche Entscheidungen nach sich, u.a. weil der Bewegungsspielraum für Tony jedes Mal kleiner wird?

    Ich finde auch nicht, dass im Roman nur diejenigen unglücklich werden, die ihren Neigungen folgen. Gerade bei der zentralen Figur Tony ist es genau andersherum. Tony entscheidet sich gegen ihre persönliche Liebe (das wäre Morten gewesen). Sie folgt der familiären Pflicht und wird unglücklich. Bei Thomas ist es ähnlich. Er verkörpert als letzter Firmenchef und Senator zunächst wie kein anderer Ruhm, Ehre und Erfolg der Familie, gerät später aber in eine schwere persönliche Krise, die zu geschäftlichem Abstieg, gesundheitlichem Zusammenbruch und Tod führt. Dabei wird sehr ausführlich geschildert, wie Thomas Buddenbrook sich immer weiter in Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen verliert, bis er innerlich völlig erstarrt und nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Bei Thomas gibt es übrigens eine deterministische Andeutung. Schon im Eingangskapitel, in dem er noch ein Jugendlicher ist, werden seine unvorteilhaften Zähne erwähnt. Mit Ende vierzig stirbt Thomas dann viel zu früh nach einem dramatischen Zahnarztbesuch. Das heißt: Sein Ende ist schon von Anfang an angelegt und somit sicher kein Zufall. Auch die Freiheit persönlicher Entscheidungen erscheint hier erheblich relativiert.

    Das wird jeder sicher etwas unterschiedlich lesen, aber das Spannungsfeld zwischen freier Entscheidung und Determiniertheit oder Pflicht, in dem sich die handelnden Personen bewegen, sollte damit einigermaßen plausibel dargestellt sein.

    Nun zu Deinen Fragen

    „Was ist euer Lieblingsroman von Thomas Mann?“

    Buddenbrooks – eindeutig.

    „Denkt ihr, dass die ‚alten‘ Klassiker für unsere Zeit noch eine Relevanz besitzen?“

    Ja, unbedingt. Alles, was genügend existenzielle Tiefe hat, bleibt m.E. immer aktuell. Bei Thomas Mann ist das fast immer der Fall. Der Kritiker Samuel Lublinski schrieb vor über hundert Jahren im Berliner Tageblatt: „Er [der Buddenbrooks-Roman] wird wachsen mit der Zeit und noch von vielen Generationen gelesen werden.“ Das denke ich auch.

    „Oder bleiben diese Romane für immer ‚zeitlos‘?“

    Ja. s.o.

    Herzliche Grüße
    aus Berlin

    Stephan

    Gefällt 1 Person

    • Hallo Stephan, sehr viele interessante Gedanken, danke dafür! Ich finde es gerade so faszinierend, dass beide Lesarten zu argumentieren sind und dass nichts aus „Buddenbrooks“ aufgrund zeitlicher Kontexte für einen jüngeren Lesenden an Aktualität verloren hat. Das ist definitiv, und da liegen unsere Meinungen eng beieinander, ein entscheidendes Merkmal zeitloser Literatur.
      In puncto Mann könnte Dich dann auch ein Video zum Zauberberg auf meinem YouTube-Kanal interessieren: https://youtu.be/cLgMsazOL9E

      Sonnige Freitagsgrüße – ebenso aus Berlin 😉
      Sandra

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