Die Real Housewives von Isental. Joachim B. Schmidt: „Tell“

Der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt veröffentlichte seinen Debütroman im Jahr 2013. Die deutschsprachige Literaturlandschaft eroberte Schmidt spätestens 2020 mit dem ungewöhnlichen, außergewöhnlichen Roman „Kalmann“.

Ist „Tell“, die multiperspektivische, rasante, gewagte Neuinterpretation der heldenhaften Geschichte von Wilhelm Tell in Wahrheit nur ein Gimmick – oder lohnt sich die Lektüre tatsächlich?


© Diogenes

Joachim B. Schmidt lebt seit 2007 in Island – der Inselstaat diente dem Autor als Inspiration für seinen Bestseller „Kalmann„, der auch in diesem Blog mit Begeisterung besprochen wurde.

Mit „Tell“ kehrt Schmidt einerseits zurück zu seinen schweizerischen Wurzeln, verarbeitet andererseits Fragmente aus seinen Recherchen und Eindrücken aus isländischen Sagen (nicht umsonst wird im Auftakt des Buchs die isländische „Egils saga“ zitiert).

Unter anderem durch diese Symbiose wird eine unvergleichliche, authentische Erzählwelt entworfen.

Schmidts „Tell“ ist vom Aufbau her ein Sammelsurium aus Episoden, Eindrücken und Einzelperspektiven.

Die bekannte Geschichte vom Apfelschuss wird in knapp einhundert Sequenzen und von zwanzig Figuren erzählt.


Der Klappentext des Romans rühmt ihn als „›The Revenant‹ in den Alpen, ›Braveheart‹ in Altdorf“ (diogenes.ch).

Meine persönliche Interpretation von Schmidts Vision hingegen trägt den Titel „Real Housewives of Isental“ – womit die Essenz der Materie und das interpretative Ziel der Lektüre (subjektiv gesehen) wesentlich treffender erklärt wäre.

Um diesen pejorativ erscheinenden, jedoch keineswegs so beabsichtigten Vergleich kurz zu erörtern: Schmidt verpackt eine sagenhafte, legendäre, dennoch für eine aufwachsende jüngere Generation längst verstaubte Geschichte in eine universal schmackhafte und attraktive Form.

Er sammelt kurze, prägnante Zeugenberichte – schreibt keine langatmigen Kapitel, sondern Szenen, Episoden – verfasst einen Roman nach dem Konzept eines Twitter-Threads, dem ein modernes, junges, hippes Publikum mit bekannterweise immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne problemlos folgen kann.


Das Resultat ist eine Geschichte aus dem Volk, über das Volk und für das Volk.

Schmidts „Tell“ trifft mehrere Nerven unserer Zeit – insofern gelten seine Entscheidungen bei Form, Komposition und Aufbau als geradezu geniale Manöver.


Der Bär kratzt sich hinterm Ohr, sieht eigentlich nicht so aus,
als wäre er gefährlich. Und doch sitzt mir die Angst genau wie
die Kälte in den Gliedern. Ich bleibe einfach stehen.“(11)


Die radikale Spaltung der Erzählperspektive ist andererseits prekär, da sie womöglich zu abschweifend, zu sehr von der Handlung selbst ablenkend sein könnte – den Roman somit der Gefahr aussetzt, an Substanz zu verlieren und das gesamte Buch wie ein Gimmick aussehen zu lassen.

Jegliche Skepsis bezüglich der multiperspektivischen Ausarbeitung verschwindet bei der Lektüre allerdings schnellstens.


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In einem gekonnt gemessenen Takt mit fließendem Rhythmus wird die erzählerische Verantwortung zwischen den Bewohner:innen in Isental und auf dem Tellhof aufgeteilt. Tell selbst kommt als Headliner erst zum Ende des Romans zur Sprache; andere beobachten, beschreiben und beurteilen seine Handlungen und Gedanken.

Wie ein Rockstar, der erst zum Ende des Abends vor ein pulsierendes Publikum tritt, erscheint Tells tatsächliche Figurenstimme erst im letzten Viertel, nachdem so ziemlich alle an der Geschichte beteiligten Figuren bereits ihre Herzen ausgeschüttet – und ihre Wahrheit zum Besten gegeben haben.

Ich musste wohl oder übel an die sensationelle kompositorische Leistung und Sogwirkung der Serie „Tiger King“ denken.


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Die von Schmidt gewählte Methode hat zur Folge, dass einerseits keine zuverlässige Erzählerstimme existiert; andererseits ein immens vielschichtiges Medley an menschlichen Instrumenten extrem unterschiedliche Perspektiven von sich geben.

Als Experiment ist die Erzählmethode daher überaus gelungen.

Ebenso spannend sind die divergierenden Realitäten, die sich aufgrund der unterschiedlichen Beziehungen der Figuren zueinander und zu Tell ergeben: anders gezeigt und empfunden wird die mystische, wortkarge Figur des Wilhelm Tell von Familienmitgliedern und Freunden, Nachbarn – oder Feinden.


Durch den multiperspektivischen Aufbau ermöglicht Schmidt die Neuinterpretation einer bekannten Materie – und gibt außerdem zahlreichen den Helden umgebenden Personen eine Stimme.

Insofern geschieht ein gekonnter Wink auf die Originalgeschichte, denn der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell war ein Produkt seiner Umgebung und seine Geschichte (fast) ausschließlich aus den Perspektiven anderer zu erzählen somit die einzig mögliche authentische Lösung.

Darüber hinausblickend wird die Tellgeschichte in die oben erwähnte Sagentradition eingewoben: diese wurden mündlich überliefert und stammten meistens, wenn nicht von Zeug:innen, dann aus vierter, fünfter und sechster Hand (Mund) – kaum aus den Mündern der Helden selbst.


Milieustudie und zeitkritische Reflexion webt Schmidt ebenso ganz unauffällig in seine Reality Show hinein: aufgrund der von analytisch dilettantischen, egoistischen Perspektiven und brutalen Aussagen und Handlungen gewisser Figuren sowie der offensichtlich unmenschlichen Behandlung und brutaler Unterdrückung anderer wird eine klare Perspektive auf die Gesellschaft gezeichnet, in der Tell damals lebte.

Insofern muss Lesenden vorher klar sein, dass diese amüsante und abenteuerliche Heldengeschichte auch ungeschönte, entsetzliche Blicke auf blutige Auseinandersetzungen und Missbrauch von Frauen und Kindern wirft – wenngleich diese Szenen (angebliche) historische Realitäten durchleuchten.

Leichtes Entertainment ist „Tell“ also keineswegs – es geht schließlich immer um Leben und Tod…


Die klare Stimme des Jungen
schneidet wie ein Messer durch die nervöse Menschenmenge. […].

»Vater!«, ruft der Junge erneut, und jetzt packt Tell die Armbrust mit beiden Händen.
»Ich bin bereit!«(134)


Zu guter Letzt ist es die Sogwirkung der fulminanten Mischung aus Spannung, starken Emotionen, nuancierten Perspektiven und impressionistischen Passagen, die aus „Tell“ einen absolut einzigartigen Roman machen.


Ob Kalmann-Fans ihren Lesegenuss in „Tell“ wiederholen können, ist schwer zu beurteilen, da die zwei Romane so unglaublich unterschiedlich sind. Wer eklektische literarische Experimente weniger mag als kohärente Romane mit längeren Kapiteln, wird an Schmidts neuem Roman weniger Freude finden.

Wer rasante, kontrastintensive, erzählerische Malströme gerne bezwingt, wird auch bei der Lektüre von „Tell“ von Joachim B. Schmidts Charisma und Können entzückt und entzündet sein.

Hier geht’s zur Leseprobe.

(Die Seitenangaben der Zitate stammen aus der E-Buch-Ausgabe des Romans.)

Bibliografie:

Titel: Tell
Autor:in: Joachim B. Schmidt

288 Seiten | 23,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 23.02.2022
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07200-6

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  1. Ohne es gelesen zu haben, fühle ich mich hinsichtlich der Erzählweise irgendwie an George Saunders „Lincoln im Bardo“ erinnert. Dort gefiel mir das gut, ob das auch hier so ist, bliebe abzuwarten. Zumal ich mir gerade die Frage stelle, ob es Ziel der Literatur sein muss, sich der kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne der aktuellen Lesergeneration anzupassen, oder ob das Ziel nicht viel mehr sein muss, die Aufmerksamkeitsspanne der aktuellen Lesegeneration der Literatur anzupassen.

    Zudem geht mir immer, wenn ich etwas über Tell lese, das erste Zitat durch den Kopf, das ich seinerzeit nach Aufschlagen des Buches von Schiller las und in dem Geßler sagt:

    „Wo sind meine Knechte?
    Man reisse sie von hinnen oder ich
    Vergesse mich und thue was mich reuet.“

    Mein jugendliches Ich war angemessen irritiert … 😉

    Gefällt 1 Person

    • Die Frage bezüglich des schnellen Tempos und der fragmentierten Darstellungsweise klärt sich für mich in diesem Beispiel positiv, da der Roman nicht in die eigene Gimmick-Falle fällt. Aber ich stimme Dir zu, dass Literatur an sich subversiv und eigensinnig sein und sich nicht Trends anpassen sollte. Ich empfand das hier eher als gelungenes Lockmittel. 😉
      Da nicht in Deutschland aufgewachsen und in der Schule andere Sagen gelesen, kann ich keine Schulerinnerungen beitragen, habe aber schon bei vielen ähnlicherlei Erinnerungsfetzen gesehen. 🙂

      Gefällt 1 Person

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