Jedermanns Buch. John Dos Passos: „USA-Trilogie“

Der US-Amerikanische Schriftsteller John Dos Passos (1896–1970) gilt als einer der Hauptvertreter der amerikanischen Moderne. Sein Roman „Manhattan Transfer“ wird als einer der maßgeblichen Großstadtromane der literarischen Moderne betrachtet.

Wer ist der eigentliche Protagonist der USA-Trilogie – und warum ist dieses Buch trotz seines enormen Umfangs so leicht zu lesen?


© Rowohlt

John Dos Passos verfasste zu seinen Lebzeiten über 40 Romane und verwandte dabei überwiegend experimentelle Collagetechniken.

In diesem Rahmen besteht auch der Roman „Manhattan Transfer“ aus szenischen Ausschnitten, die eher einer vorbeischwenkenden Kameraperspektive gleichen – oder aus einem unmittelbar niedergeschriebenen Bewusstseinsstrom bestehen.

Der US-Amerikanische Autor Sinclair Lewis bezeichnete „Manhattan Transfer“ als den bedeutendsten Roman der Moderne – aufgrund der stilistischen und kompositorischen Besonderheiten sowie der inhaltlich treffenden Beschreibungen von diversen revolutionären Änderungen um den Jahrhundertwechsel, der individuellen Verunsicherung und Ruhelosigkeit zeitgenössischer Individuen, des sich rasant steigernden Lebenstempos – und zahlreichen anderen Aspekten – ist dieser Lob meinerseits vollständig gerechtfertigt.

Kann für das 1600-Seitige Opus Magnum das gleiche Lob ausgesprochen werden?


Während „Manhattan Transfer“ als Großstadtpanorama zu bezeichnen ist, greift die „USA-Trilogie“ – wie der Titel bereits verrät – geographisch wesentlich weiter. Die Romane beanspruchen eine ambitionierte Beschreibung sozioökonomischer, politischer und kulturhistorischer Ereignisse im gesamten Raum der Vereinigten Staaten – vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre.

Der Klappentext der „USA -Trilogie“ verspricht eine Lektüre, die nur in Superlativen beschrieben werden kann – und übertreibt mit diesem Versprechen an keiner einzigen Stelle.

Kompositorisch bestehen alle drei Romane aus viererlei Kapiteln unterschiedlicher Art: die an „Manhattan Transfer“ erinnernden, stilistisch eklektischen, collagierten Passagen werden als „Das Auge der Kamera“ ausgewiesen. Diese nichtlinearen, als Bewusstseinsstrom konzipierten Passagen wechseln sich ab mit aus Zeitungsausschnitten und Schlagzeilen bestehenden, als „Wochenschau“ titulierten, römisch nummerierten Teilen.

Zudem sind zweierlei erzählende Kapitel auszuweisen: Kurzbiografien wichtiger Figuren aus der US-Amerikanischen Geschichte und längeren Romankapiteln mit ausführlichen Handlungslinien.

Zur angenehmeren Lektüre werden die Kapiteltypen zusätzlich visuell auseinandergehalten: jeder Typ hat in dieser Ausgabe ihre eigene Schriftart, sodass kognitiv ein schnellstmöglicher Wechsel stattfinden kann und die Komplexität der Komposition nicht überfordernd wirkt.


Der erste Teil, „Der 42. Breitengrad“ – auf dem sich beispielsweise die Städte Boston, Detroit und Chicago befinden – beschreibt den Beginn zahlreicher als typischer „American Dream“ zu bezeichnenden Lebensgeschichten. Es werden fünf junge Männer und Frauen verfolgt, die aus ihrem prekären Kleinstadtmilieu ausbrechen und ihre familiären Käfige verlassen möchten, um einen eigenen Fleck auf der Erde zu begründen.

Unglücklicherweise ist dies gar nicht so einfach.

Der 2. Teil, „1919“, thematisiert vorrangig das Leben US-Amerikanischer Soldaten in Europa an und nahe der Front sowie wirtschaftliche und soziopolitische Änderungen in den Vereinigten Staaten während und nach dem Ersten Weltkrieg.

Der 3. Teil, „Das große Geld“, konzentriert sich auf die aufblühende Industrie, den Börsenboom und mündet in Hollywood. Der Fokus liegt auf die illusorische Manier des Aktienreichtums, den trügenden Glanz der Filmindustrie sowie den innenpolitischen und individuellen Beziehungen in der Arbeiterbewegung und der Auswirkung der Streiks.

Mehrere Protagonist:innen überqueren die Romangrenzen, weswegen eine Lektüre der Trilogie am Stück durchaus als sinnvoll erscheint. Kompositorisch sind die erzählenden Kapitel mit angenehmer Länge und in einem gut getakteten Tempo geschrieben: so entmutigt die hohe Anzahl der Figuren an keiner einzigen Stelle ein Pausieren oder Abbrechen der Lektüre.


Dos Passos lässt in jede:r seiner Protagonist:innen solche Mengen an Individualleben einfließen, dass man ihre voneinander getrennten Biografien bereits im Einzelnen mit Eifer und Spannung verfolgt. Ob sie sich im späteren Handlungsverlauf tatsächlich treffen, wäre geradezu irrelevant – und doch erhöht es das Lesevergnügen noch um einiges, wenn dies passiert.


„In diesem Augenblick erschienen drei Polizisten und nahmen die verdammten Pazifisten fest. […] Die Kapelle spielte noch einmal The Star-Spangled Banner, und alle versuchten mitzusingen, aber es mache nicht viel Eindruck, denn keiner kannte den Text.“(447)


Dos Passos skizziert in der „USA-Trilogie“ ein wirkungsstarkes, multifacettiertes Portrait der US-Amerikanischen Gesellschaft – deren Einzelteilchen einander in überaus großen Stücken gleichen, dennoch vollständig unterschiedliche Ideologien repräsentieren und entsprechend divergierende Werdegänge haben.


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Auch wenn man die Protagonist:innen salopp als die typischen Tom, Dick und Janey bezeichnen könnte – meines Erachtens sind die Romane so ausgerichtet, dass jede:r Lesende eine Sympathie-, eine Antipathie– und eine Identifikationsfigur findet –, auch wenn alle diese Figuren aus demselben öden, regressiven, ärmlichen Kleinstadtmilieu stammen und darauf basierend geradezu frustrierend identische Träume, Ängste und Hoffnungen haben –

auch in Anbetracht zahlreicher heteronormativen Klischees (nur in Teil drei wird auf US-Amerikanischem Boden einer kleinen sexuellen Prärevolution Raum gewährt, darüber hinaus gilt Paris pejorativ als ein großes Hurenhaus, obwohl die Soldaten diese Umstände durchaus genießen) –

überzeugen ihre individuelle Nuanciertheit, die immer klarer werdende kompositorische Verknüpfung, ihre interessanten Familiengeschichten und ihre Resilienz im Überlebenskampf.


Die mit „Das Auge der Kamera“ titulierten Kapitel nehmen Lesende gemäß der Hauptthemen zunächst mit auf Zugreisen durch das Land, danach an die Front, schließlich in die florierenden Großstädte mitten im Börsenboom… und parallel in die ersten Reihen von gewaltvoll endenden Streiks.


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Zeitgleich beschreiben als Heldengeschichten wahrnehmbare Kurzbiografien große amerikanische Erfolge: Dos Passos beschreibt geradezu auf eine schwärmerische Art und Weise Personen wie Thomas Edison, Theodore Roosevelt, Henry Ford, Isadora Duncan, Rudolph Valentino – und viele andere Politiker, Ökonomen, Erfinder oder Künstler:innen, die für die US-Amerikanische kulturelle, politische oder soziale Entwicklungen maßgeblich oder einflussreich waren.

Der feierliche Ton der Biografien, deren Protagonist:innen wie Kultfiguren behandelt werden, lässt auf einiges an Sarkasmus in der Erzählerhaltung deuten: mit seinen „gewöhnlichen“ Protagonist:innen scheint Dos Passos interpretativ wesentlich mehr authentische Sympathie zu empfinden.


„Den Krieg haben wir ausgehalten, aber
der Frieden hat uns fertiggemacht.“
(987)


Trotz des beeindruckenden, ja eventuell sogar Bedenken inspirierenden Umfangs dieser Romantrilogie ist sie durchgehend unglaublich angenehm zu lesen. Schon aufgrund der visuellen Differenzierung sind die unterschiedlichen Kapiteltypen sofort erkennbar und können dementsprechend hintereinander oder in Gruppen gelesen werden.

Ebenso wurden die erzählenden Kapitel oft wie Folgen einer Serie konzipiert (um die Kontextualisierung mit dem filmischen Stil erneut hervorzuheben – auch da war Dos Passos seiner Zeit in so mancherlei Hinsicht voraus), was bedeutet, dass zum Ende des Kapitels eine gewisse Spannungslösung stattfindet und die Kamera im geistigen Auge ausblendet, ehe das nächste Kapitel wieder das Auge der Kamera zeigt oder eine bedeutende historische Figur behandelt.

Für historisch detailliert Interessierte wurde ein umfangreicher Anhang hinzugefügt, in dem Personen, Ereignisse, Werke, Begriffe und diverse andere Nuancen aus den behandelten Zeiten und Orten kontextualisiert und ergänzt werden.


Zweifelsohne sollte diese Trilogie mit Gemach und Geduld gelesen werden: Dass hier innerhalb von einer Woche alle Aspekte des Geschriebenen geschätzt, aufgesogen und verdaut werden können, ist eine absurde Voraussetzung.


„Margo gelang es mit ihren Optionen hunderttausend Dollar
Gewinn zu machen […]. Das Problem war nur, dass sie
ihren Gewinn nicht zu Geld machen konnte.“
(1410)


Noch bis zur letzten Seite hängen Anfang und Ende dieser Trilogie zusammen, da auch der sich zu Beginn der Lektüre unterwegs befindende Jedermann zum Ende der Erzählung abgeholt wird.

Ob seine Träume in Erfüllung gegangen sind? Dies soll jeder Lesende für sich selbst in Erfahrung bringen.


Interessenten an US-Amerikanischer Geschichte erwartet in der „USA-Trilogie“ eine eklektische, echte, raue, menschliche, reichhaltige Mischung aus billigen Klischees, hoffnungslosen Träumen, deprimierenden Kleinstadtidyllen – sowie spannenden Lebensentwürfen, scharfsinnigen Beobachtungen und einer wahnsinnigen Vielfalt an Facetten der Amerikanischen Seele – in all ihren Fasern und Farben.

Ausdauer, Freude an dicken Büchern und ein wenig historisches Interesse sollte man für die Lektüre definitiv mitbringen.

Darüber hinausblickend kann ich meinerseits eine uneingeschränkte Leseempfehlung für dieses Meisterwerk aussprechen.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: USA-Trilogie
Autor:in: John Dos Passos
Übs.:in:  Nikolaus Stingl, Dirk van Gunsteren

1648 Seiten | 25,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.12.2021
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-27381-0

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1 Antwort

  1. Die Trilogie hab ich relativ bald nach meinem ersten Lesen von „Manhattan Transfer“ gelesen, ich schätze so vor 15 Jahren. Das Ganze wirkt mE aber im Vergleich zu ersterem wie eine Fleißarbeit. Zu lang die Einzelkapitel, um als Motive in einer literarischen Symphonie zu funktionieren, wie es in Manhattan Transfer gelingt, zu schematisch erzählt, um am Stück wirklich interessant zu sein. Manhattan Transfer ist ein kompositorisches Meisterwerk, ein „erwachsener“ Ulysses (vgl.: https://soerenheim.wordpress.com/2018/01/29/der-erwachsene-ulysses/). Ich lese oder höre es (zuerst in der leider gekürzten dt. Version, mittlerweile im vor ein paar Jahren erschienenen kompletten Audio-Original) fast jährlich. Obwohl die USA-Trilogie mit manch anderem Roman verglichen nicht schlecht ist, hab ich bis heute keinen Grund gefunden, sie nochmal aufzuschlagen.

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  2. Danke für die beschwingte Rezension, die Mut macht, diesen Wälzer aufzuschlagen. Ich habe sehr gelacht bei dem Zitat mit den drei Polizisten. Ich habe das Zitat von Jean-Paul Sartre zu Dos Passos wieder gefunden.

    „Die Welt von Dos Passos“ ist unmöglich – wie die von Faulkner, Kafka, Stendhal -, denn sie ist widersprüchlich. Aber eben deshalb ist sie schön: Die Schönheit ist nichts anderes als ein verschleierter Widerspruch.“ (Aus: Der Mensch und die Dinge)

    … bevor ich etwas Neues und Langes lese, hänge ich noch im letzten Viertel von „Atlas Shrugged“ und finde die Warnung in Sachen Überlänge stets gerechtfertigt 😀 Viele Grüße.

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