Literarische Abenteuer. Karl Ove Knausgård: „Aus der Welt“

Norwegischer Autor Karl Ove Knausgård ist mit seiner sechsteiligen Autobiografie „Min Kamp“ bekannt geworden, weil Mitglieder seiner Familie ihn für die Bekanntmachung familieninterner Angelegenheiten verklagen wollten. Umso mehr hat er an internationaler Bekanntheit gewonnen, weil die Reihe aus großartigen Romanen besteht. Knausgård schreibt ausgesprochen scharfsinnige und intelligente Beobachtungen in einem hervorragenden Stil.

Es ist allerdings typisch für Knausgård, seine Wahrheiten auf der Handlungsebene bis aufs kleinste peinlichste Detail darzustellen und dabei weder auf sich noch andere Rücksicht zu nehmen. Im Debütroman „Aus der Welt“ fällt dies noch ein wenig anders aus.


© Luchterhand

Die Geschichte dreht sich um den 26-Jährigen Henrik Vankel, der als Aushilfslehrer in einem winzigen Ort in Nordnorwegen eingestellt wird und dort eine hochgradig illegale Affäre mit seiner Schülerin beginnt.

Allerdings wird diese Geschichte abrupt unterbrochen, als Henrik in seine Heimatstadt zurückkehren muss.

Im Wechsel erzählt Henrik die Liebes- und Leidensgeschichte seiner Eltern, schildert Episoden aus seiner Jugend, verarbeitet die Konsequenzen seiner Affäre und nimmt später den noch in der Luft hängenden Handlungsstrang wieder auf.

Auf den ersten Blick macht die Handlung den kleineren Teil des Romans aus: Sie ist umwoben von Henriks reflexiven Gedankengängen und existentialistischen Grübeleien. Er reflektiert seine eigene Position in der Zeit, verbindet allgemeinmenschliche Elemente der Kinder in seiner Klasse mit Biografien aus vorangehenden Jahrhunderten.

Das Thema Zeit und die Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit eines Individuums werden aus aus Punkten der Vergangenheit beschrieben, die in Kontexten von geschichtlichen Kausalitäten umgesetzt werden – so vergleicht Henrik die Innenwelten seiner Schüler mit gleichaltrigen vor einem Jahrhundert, zwei oder fünf.


Die zweite Perspektive der Introspektion dreht sich um die norwegische Natur und daraus entstehende Abschottung von kleineren Gemeinden zwischen Fjords, Bergen und Wäldern. Die Stille der Umgebung, die menschenlose Leere, die Unbedeutendheit des Einzelnen und die Verlangsamung des Lebens inmitten der Natur werden ebenso vielfältig und umfangreich dargestellt wie die geschichtlichen Nuancen der europäischen Gesamtexistenz eines Individuums in besagten kleinen Orten.

Henrik reflektiert sowohl auf normalmenschlicher als auch gesamtgeschichtlicher Basis darüber, was eine einzelne Existenz im Schnitt der Menschheitsgeschichte ausmacht. Er versucht, Berührungspunkte zwischen sich und anderen zu finden, merkt jedoch, wie sehr er selbst bereits aus der Welt getreten ist und wie diese ihn nicht berührt.

Obwohl seine Reflexionen einerseits von hoher Empathie zeugen, tut er die Bewohner des Ortes als kleinkariert, uninteressant und mondän ab. Zwischen diesen Momenten auf der Suche nach einer emotionalen Bindung und gefüllt mit der Scham, die ihm sein eigenes Verhalten bereitet, bewegt Henrik sich unter den Menschen, die er zu verstehen versucht und doch so abstoßend findet.

Im weiteren Verlauf des Romans wird auf die Familiengeschichte und ihren Bezug zu Henriks psychischen Problemen sowie seinem Alkoholkonsum eingegangen. Dass die Misshandlung seitens des Vaters tiefe Spuren in ihm hinterlassen hat, wird im Laufe der Geschichte ebenso klar.


Da „Aus der Welt“ deutschsprachig nach „Min Kamp“ veröffentlicht wurde, ist demjenigen, der mit Knausgårds Autobiografie bekannt ist, bereits nachvollziehbar, auf welche Konfliktsituationen und katastrophische Ereignisse diese Ansätze hinauslaufen – weswegen ich jemandem, der mit dem Autor noch nicht bekannt ist, als ersten Knausgård-Roman den ersten Teil der Autobiografie empfehlen würde.

Als Knausgård-Kenner konnte ich bereits auf Seite fünfzehn in Bewunderung gegenüber dem Autor versinken, da der Norweger ein wahrhaftiger literarischer Gigant ist. Seine Methode ist unglaublich verärgernd – er tut es wirklich jedes Mal! –, da auf einmal die Handlung, um die so viel Spannung erzeugt wurde, dem Leser abrupt entzogen und die Erzählung in eine andere Zeit verlegt wird.

Ebenso muss man sich die Zeit nehmen, durch den Roman durchzugehen, denn im Roman wird über Seiten und Seiten über allgemeine Zusammenhänge und diverse Kontexte reflektiert. Man sammelt die eingestreuten Informationen zur Haupthandlung wie Brotkrümel auf und wird unauffällig über Geschichte, Kultur und Literatur unterrichtet. Der Roman beinhaltet kleine literarische Studien und Analysen zu Kant, Joyce und diverse Reflexionen zu anderen großen Personen aus der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte.


„Aus der Welt“ ist, wie jeder Roman von Knausgård, eine Sammlung kulturhistorischer Perlen, literarischer Analysen, geschichtlicher Berührungspunkte – und eine entsetzliche Geschichte über einen unsympathischen, Menschen hassenden, amoralischen Alkoholiker. Niemand schreibt so wie er, und jedem Leser sind seine Romane definitiv nicht zu empfehlen.

Doch persönlich empfinde ich auch den Debütroman als äußerst wertvoll und habe ihn sehr genossen – auch wenn er meine Geduld auf die Probe gestellt hat.

Wie stehst Du zu Karl Ove Knausgård? Liest Du gerne ausartende, lange, reflexive Romane oder sprechen Dich Ereignisstarke Handlungen mit schnellem Tempo eher an?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr.

Hier geht’s zur Leseprobe.


Bibliografie:

Titel: Aus der Welt
Autor: Karl Ove Knausgård
Seitenzahl: 928
Erscheinungsdatum: 19.10.2020
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87437-1

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  1. Eine sehr schöne Besprechung von einem Buch, das mich ebenfalls sehr beeindruckt hat. Viele Grüße

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