„Serpentinen“ (2020) von Bov Bjerg handelt von den Komplikationen einer Vaterrolle und der generationenübergreifenden Verarbeitung von familiären Traumata. Die Mission des Protagonisten ist zum einen die Konfrontation mit und Überwindung der eigenen Herkunft, das Entkommen aus den von familiären Bänden und Traumata gestellten Grenzen und Rahmen.
Zum anderen möchte er die ewige Wiederkehr des Gleichen im Interesse des eigenen Werdegangs umgehen. Und idealerweise seinen Sohn vor einer grausamen Zukunft retten.
Vieles misslingt.
„Das war die Kunst von Geisteskranken,
dachte ich. Barock brut.
Die Botschaft des Künstlers musste in den letzten Winkel hineingeschrieben werden:
„Ich war hier. Und hier war ich auch.
Und hier. Und hier und hier und überall.
Es gibt mich! Ich bin! Ich bin!„
Ein namenloser Vater fährt mit seinem Sohn durch die Orte seiner Kindheit und ruft zeitgleich die daran gebundenen Erinnerungen auf. Serpentinen sind schlangenförmige Wege mit scharfen Kurven, die üblicherweise einen Berg umfahren. In diesem Fall ist es der Große Berg der Kindheit (GroBedKi), an dessen Spitze der Protagonist sich in teils mit karger Klarheit, teils durch halb geschlossene Erinnerungsvorhänge antastet.
Über die gefährliche Nostalgie geträumter Kindheiten war in diesem Blog bereits ausführlich die Rede. Doch ist Bjergs Roman eher Auslöschung als Wiederentdeckung, eher Defragmentierung als Wiederbelebung der Kindheit. Er möchte der Historie der Suizide und Depressionen in seiner Familie endlich nachgehen und dem Zyklus der traumatischen Kindheiten eine Ende bereiten. In der Hoffnung, sein eigenes Leben und dadurch das seines Sohnes zu retten.
„Ich war für den Vater: NICHTS.
Der Junge war für mich: ALLES.„
Von der Thematik her also bereits harter Tobak. Der Roman hat unterschiedliche Resonanz erhalten wie es sich für gute Literatur gehört: Das Buch wurde einerseits als „ein fulminanter und erschütternder Roman über familiäre Sprachlosigkeit“ (1) gepriesen, andererseits versperre die „zähe, kalte Erzählweise“ (2) einen bereits schwer zu ergründbaren inhaltlichen Boden.
Stilistisch sind auch meinerseits einzelne Sätze und Passagen bemerkenswert und als alleinstehende Seiten zu loben. Es gibt Gedankenperlen und zitierbare Abschnitte.
Doch darüber hinausblickend sehe ich wenig Wert in dieser Geschichte, die dem Erzähler immer mehr aus den Händen gleitet. Das ist wahrscheinlich stilistisch so gewollt – doch distanziert der Text sich dadurch umso mehr vom Leser.
Woran es einerseits hängen bleibt, ist die fehlende Narrative im Roman. Bjerg nähert sich dem GroBedKi von allen möglichen Seiten, beschreibt seine kaum vorhandene Beziehung zum Vater, die familiären Umstände und die tägliche Gewalt, die vom Vater ausging. Die Vergleiche mit Freunden der Jugendzeit und ihren Schisksalen werden gezogen. Der Protagonist reflektiert seine eigene Aggression und stellt fest, dass beruflicher Erfolg und eine Karriere als renommierter Wissenschaftler die innere Leere nicht auffüllen können.
„Ich war gut. Ich war der Beste.
Doch ich war nicht gut genug.“
Doch soll sich hier anhand weniger Referenzpunkte entweder das Portrait eines Protagonisten oder die fragmentarische Darstellung einer Gesamtproblematik auszeichnen. Weder noch gelangt als klarer Gedanke durch die lückenhafte Erzählung. Die Problematik wird angesprochen, die Vergangenheit wird durchforscht, ein beängstigendes Ereignis findet statt. Weder eine Lösung noch eine Auslöschung werden in Aussicht gestellt.
Sowohl Knausgård als auch Thomas Bernhard haben die Angelegenheit eleganter gelöst und ihren persönlichen GroBedKi erklommen. Bjerg kommt nicht an die Spitze heran.
Soll das so? Liegt in der Aussichtslosigkeit der Gesamtsituation die Aussage des Romans geborgen?
Ein weiteres Problem ist das Nichtsprachliche im Sprachlichen. Persönlich fehlten mir semantische und lokalkulturelle Assoziationen, die ich ohne andere Rezensionen zu konferieren gar nicht erkannt hätte. Doch gehören Details wie „Schienenbusse“ wohl zu denjenigen Farb- und Geräuschkulissen, die im Leser Empathie erwecken sollten. (3)
Davon abgesehen sollen die fragmentierte Schilderung der vergangenen und laufenden Ereignisse und die elliptische Natur des Textes die Bearbeitung der Thematik erleichtern. Doch einerseits stechen allegorische Offensichtlichkeiten wie Wände-Anmalen, Memorabilien in einer Blechdose, Beinahe-Verkehrsunfälle et cetera eher ins Auge und lenken vom eigentlichen analytischen Vorgehen ab. Schließlich wird das narratologische Vorgehen durch den Erzähler selbst entlegitimiert, da seine Erinnerungen wohl doch nicht ganz der Wahrheit entsprechen. Die Fahrt am Rande des GroBedKi wird immer aussichtsloser.
Wenn eine der oben genannten Aspekte tragende Konsequenzen hätte und zum Ausgang des Romans beitragen würde, wäre dem Gesamteindruck schon geholfen.
Und wenn es anfangs aufregend und schön ist: Man kann nicht ewig Serpentinen fahren, ohne am Ende irgendwo anzukommen.
Was macht für euch literarisch harten Tobak lesenswert? Welches Buch von der Longlist würdet ihr mir empfehlen?
Auf eure Resonanz freue ich mich in den Kommentaren.
Bibliografie
Titel: Serpentinen
Autor: Bov Bjerg
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 28.01.2020
Verlag: Claassen (Ullstein Buchverlage)
ISBN: 9783546100038
Serpentinen online bestellen bei: Thalia * buch24.de *
(1) Die Zeit: Der Strick im Keller
(2) literaturkritik.de: Der ewige Kreislauf
(3) Kaffeehaussitzer: Schwarzer Gott und roter Schienenbus
Literarische Abenteuer. Die gefährliche Nostalgie geträumter Kindheiten: Karl Ove Knausgårds ‘Sterben’ und Thomas Bernhards ‘Auslöschung’
Literary Escapades. The Illusory Worth of Normalcy. Karl Ove Knausgård: ‘My Struggle 2. A Man in Love’
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