„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ (2021) von Alena Schröder ist eine generationenübergreifende Erzählung über Frauenschicksale und Familiengeheimnisse zwischen 1922 und 2016. Die Handlung greift über die 27-Jährige Hannah zurück zu deren Urgroßmutter Senta.
Zwischen zwei Biografien springend spielt der Roman hauptsächlich in Berlin und beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus, dem Kunstraub der Nazis, den Pflichten und Lasten, die einer Mutter und einer Frau zufallen. Überraschend viele Parallelen bilden sich zwischen den Jahrzehnte voneinander entfernten Lebensgeschichten der weiblichen Hauptfiguren ab.
Obwohl die Geschichte mit Hannah beginnt und endet, ist es wohl oder übel Senta, deren Werdegang mit mehr Spannung verfolgt wird. Obwohl Hannah mit einigen eigenen Problemen zu kämpfen hat, nimmt sie im Laufe der Erzählung die Beobachterrolle ein.
Der Leser erfährt mehr über die Herkunft, die häusliche Lage, den großen Träumen und den Schicksalsschlägen von Senta – da ihr Kampf ums Überleben zur Kriegszeit um einiges interessanter ist als Hannahs existenzielle Krise und Orientierungslosigkeit. Sentas großer Traum von der Selbstständigkeit und die Affäre, die ihren Werdegang vollständig ändert, sind erhebliche Schicksalsschläge, die die junge Frau teuer bezahlen muss.

Neues Liebesglück nach dem Unglück bringt weitere Komplikationen mit sich, bis Senta schließlich aus Deutschland fliehen muss – dieser Moment ist eine der wahrhaft packenden Szenen im Roman.
Es zeichnen sich einige biografische Parallelen im Buch aus: die Antipathie zur Identität der Mutter, die Zuwendung zu einer idealisierten Mannesfigur und darauffolgende Desillusionierung, unerwartete Freundschaften und dergleichen.
Gleichermaßen wird jedoch bei allen vier Frauen ihre Selbstständigkeit, ihre Fähigkeit sich alleine zu behaupten und ihre Eigensinnigkeit sichtbar. Wie jedoch die Frauen aus gegenseitiger Perspektive geschildert werden und unglaublich vieles kommunikativ verloren geht, erzählt Schröder auf eine feinfühlige, tiefgreifende Art.
Der Stil des Buches ist durchgehend lobenswert: bereits von der ersten Seite ab beeindrucken der dynamische Sprachgebrauch, die gefühl- und humorvollen Beschreibungen der Innenperspektiven und die realistische Handhabung des emotionalen Spektrums von Mutter-Tochter-Beziehungen. Die Autorin geht gekonnt mit kommunikativen Nuancen und dem Element des Ungesagten um, was zur grundlegenden Ambivalenz der Figurendynamiken noch mehr beiträgt.
Auch kompositorisch ist das Buch gelungen: Jede der zwei nebeneinander laufenden Handlungen wird in relativ kurzen, wechselnden Episoden geschildert, die eine durchgehende Spannung aufrecht halten. Die Geschichte ist von Anfang bis Ende mitreißend und interessant.
Als solches ist der Roman also ein wahrer Lesegenuss.
Auf den zweiten Blick machten mich jedoch die historischen Details stutzig: Es scheint sehr leicht und komplikationslos vonstatten zu gehen, wie die Figuren dem Bösen entgehen. Logistische Herausforderungen scheinen im Weiteren nicht zu existieren. Obwohl die Autorin sich hinsichtlich einer wichtigen Handlungsfacette für eine negative Endlösung entschied, überwinden die Frauen ihre respektiven Schicksalsschläge mit einer auffälligen Leichtigkeit.
Diese Tatsache kann natürlich genauso gut zur Bewunderung der Kraft und Ausdauer der Figuren führen, verleiht dem Roman jedoch auch eine gewisse Naivität. Diese überträgt sich in die Bereiche des Rechtlichen und des Historischen, wenn es ums Thema Kunstraub geht.
Für eine Autorin, die sich mit den feinsten Nuancen einer weiblichen Gefühlswelt so genau und gut auseinandergesetzt hat und ebenso darauf besteht, das Linien- und Straßennetz im heutigen Berlin fehlerfrei zu beschreiben, ist es ein wenig verwunderlich, dass historische Details nicht mit der gleichen Lupe erforscht worden sind. Offensichtlich ist hier nicht in jeglicher Hinsicht dieselbe Finesse vorhanden.
Nichtsdestotrotz hat Schröder sich einwandfrei die Perspektiven dreier sehr unterschiedlicher Frauen zu historisch sehr unterschiedlichen Zeiten zueigen gemacht und auf eine emotional intensive, kompositorisch gekonnte Art miteinander verflochten.
Wer eine entsprechende Erwartungshaltung annimmt und nicht nach einem seriösen historischen Roman verlangt, wird ein großartiges Leseerlebnis vorfinden.
Bibliografie:
Titel: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Autor: Alena Schröder
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 20.01.2021
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-28273-4
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FAZ: Das lassen wir lieber in der Kiste. Kunstraub im Nationalsozialismus
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