Sally Rooneys introspektiver Roman „Normale Menschen“ handelt vom Erwachsenwerden, den Tücken von zwischenmenschlicher Kommunikation und der trügerischen Suche nach Trost in Normalität als Ausgleich anderweitig komplexer Umstände.
Im Grunde ist „Normale Menschen“ eine handelsübliche Entwicklungs- und Liebesgeschichte, die zwei junge Individuen in ihrer respektiven Emotionswelt beschreibt – doch zwischen den Zeilen halten sich beunruhigende Alternativinterpretationen versteckt.
Die große Begeisterungswelle für Rooneys Romane habe bei vielen Lesern die Erwartungshaltung in absurde Höhen getrieben und dadurch enttäuschte Reaktionen bewirkt.
Ich kam zum Buch jedoch post-Hype und war demnach nicht mit irgendeiner Erwartungshaltung vorbelastet.
Auf Anhieb liest der Text sich fließend, durchleuchtet beide Protagonisten auf eine recht unkonventionelle Weise und zeigt, wie junge, leicht beeinflussbare Individuen denken und funktionieren, wenn sie im normalen Sinne unnormal sind.
Denn schließlich sind Menschen immer Individuen, ungewöhnlich in ihrer Gewöhnlichkeit und normal aufgrund ihrer Besonderheiten.
Der Titel des Romans ist semantisch interessant, da beide Protagonisten sich grundsätzlich danach sehnen, das zu sein, was die Allgemeinheit als „normale Menschen“ bezeichnet.
Im einen Fall bedeutet das: sich ausschließlich in der Peripherie bewegen, nicht auf andere einlassen, um selbst nicht aufzufallen. Im anderen Fall heißt es: sich ausschließlich innerhalb der konventionellen Normen bewegen, bloß keine Beliebtheit einbüßen.
Rooney beschreibt, wie die beiden sich im Sinne dieser Ideale in der High School gegenseitig verletzen, in ganz kleinen Schritten verstehen lernen, warum Normalität eine Illusion ist, und wie sie im Erwachsenalter zu sich selbst finden. Immer wieder zieht es die beiden emotionsbedingt zueinander – und doch misslingt die Kommunikation oder die Umstände treiben die zwei wieder auseinander.
Im Sinne einer Figurenentwicklung durchläuft die Handlung unterschiedliche Phasen. Während Connell und Marianne gemeinsam Schule und Universität besuchen, merken sie eine einzigartige Bindung zum anderen. Anfangs besitzen sie weder den Willen noch den Mut sich zum anderen zu bekennen. Auch an der Universität entdecken sie neuen Seiten und eine neue Intimität zueinander – doch wollen weder Connell noch Marianne wahrhaben, dass sie füreinander gemacht sind.
Beiden Protagonisten wird grundsätzlich genug Raum und Zeit gegeben, ihre persönlichen Probleme zu bearbeiten. Die Beziehungen zwischen den Familien, die zu bewältigenden Traumata und die Konstellationen der Nebenfiguren weichen von üblichen Mustern ab.
Beide Protagonisten sind auch zu Genüge unsympathisch, sie handeln oft emotional unreflektiert – doch in ihrem Wunsch danach, geliebt zu werden und ihrem Zweifel daran, wertvoll genug zu sein, um die Liebe des anderen zu verdienen, liegen zahlreiche gemeingültige Elemente, die die Geschichte dann wieder sympathisch machen.
Ärgerlich ist die gänzlich unreflektierte Behandlung der individuellen Traumata und der Aspekt der individuellen sexuellen Vorlieben, für die die Geschichte noch genug Luft freigelassen hätte.
Dass Mariannes Wunsch, Schmerzen zu empfinden und die Überzeugung, Gewalt verdient zu haben, von Familientraumata stammen, wird auf eine relativ transparente Art und Weise erläutert. Dass Connell sich eigentlich gar nicht sosehr für Sex interessiert, wird auch gerade so am Rande erwähnt, um ihn „anders als die anderen Jungs“ erscheinen zu lassen.
Dennoch wird beispielsweise die einvernehmliche Praxis des Sadomasochismus als Genuss- und Leidenschaftsquelle vollständig entlegitimiert und zeitgleich der tiefere Hintergrund des Familientraumas, das Mariannes Pathologie begründet, ebenso weitgehend außer Acht gelassen. Explizite Szenen gibt es genug – die Autorin hat also keine Angst vor Darstellungen alternativer Vorlieben. Kluge psychologische Nuancen liegen ebenso vor: die Kontrastierung der emotionalen Sensibilität und der groben Kommunikationsweise Mariannes empfand ich als raffinierte Darstellung des Kampfs zwischen ihrer Angst und ihrer Sehnsucht.
Doch hätte die Autorin sich in beiden Fällen viel tiefer in die dunkleren Seiten der Protagonisten reinsteigern können – und nicht nur kurz erwähnen sollen, dass gewisse Ereignisse die respektiven Krisen ihrer Hauptfiguren ausgelöst haben.
„Normale Menschen“ ist somit eine größtenteils realistische – obwohl vielerorts unreflektierte – Liebesgeschichte übers normalmenschliche Kaputtsein und den Wert des zueinander Findens in gegenseitiger Verletzbarkeit.
Für diejenigen, die jugendliche Entwicklungsgeschichten übers Erwachsenwerden mögen, sich als sexuell liberal bezeichnen, und am Ende dann doch nicht so viel über die Beschaffenheit der psychologischen Tiefen eines Individuums nachdenken wollen, ist Rooneys Roman eine emotionale Goldmine. Dass das Buch Hype im Mainstream erzeugt hat, kann ich durchaus nachvollziehen, denn auf einer oberflächlichen Ebene behauptet er sich als „anders, als die anderen Geschichten“.
Darüber hinaus bietet „Normale Menschen“ wenig Resonanzboden.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Normale Menschen
Autor: Sally Rooney
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 17. August 2020
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87542-2
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