Literarische Abenteuer. Fabian Neidhardt „Immer noch wach“

Fabian Neidhardts emotionaler Debütroman handelt vom Kampf mit Krebs, menschlicher Würde, dem Recht zu autonomen Entscheidungen über das eigene Leben – und dem Prozess des Loslassens von den liebsten Menschen im Angesicht des eigenen Todes.

Wie es wohl möglich wäre, eine so schwermütige Thematik als angenehm lesbar zu gestalten? Der Autor hat eine überraschende Lösung gewählt.


Der dreißigjährige Protagonist Alex wird mit Krebs diagnostiziert und beschließt, die übrigbleibenden Monate seines Lebens in der Isolation einer Hospiz zu verbringen.

Die Adresse möchte er allerdings niemandem verraten – denn Alex weiß genau, wie er aus dem Leben scheiden will.

Aufgrund der schrecklichen Erinnerungsbilder seines am Krebs verwesenden Vaters möchte Alex den Zerfall seines Körpers niemandem zur Last werden lassen.

Die Angst vor dem Tod, den Schmerzen und der gänzlichen Hilflosigkeit führt zunächst zu einer Verkapselung und Dissoziation vom Freundeskreis.


Dieser Roman ist aus einer stilistischen Perspektive auffällig in seiner Unauffälligkeit: Neidhardt schreibt in einem auf den ersten Blick vollständig charakterlosen Stil. Keine Schnörkel, keine übertrieben elliptischen Beschreibungen der Figuren und der Umgebung fügt er seinen Beschreibungen hinzu.

Bevor diese Entscheidung jedoch beginnt, in inhaltlicher Monotonie zu münden, findet eine Kehrtwendung in der Handlung statt und die Reise des Protagonisten und des Lesers zum eigentlichen Erkenntniswert der Geschichte beginnt.

Alex‘ zweite Chance eröffnet ihm als Individuum und als Mensch vollständig neue Existenzperspektiven – und dadurch neue Möglichkeiten, seine Stellung im Leben zu definieren und auszuschöpfen.


Schließlich begründen sich auch die stilistischen Entscheidungen in vollem Maße: die Thematik ist so emotional, gegen Ende umso mehr – sodass irgendein anderer Stil dem Inhalt etwas wegnehmen würde.

In Neidharts Roman steckt eine beeindruckende reflexive Tiefe bezüglich aller denjenigen Aspekte, vor denen die meisten Angst haben, überhaupt nachzudenken.

Bekannte Typen, Charaktermerkmale und Szenarien finden sich auch in dieser Handlung wieder. Keine von den Nebenfiguren ist besonders interessant. Die sich hinter der Covergestaltung verbergende Geschichte könnte man als Klischee abtun. Jedoch haben diese Elemente in Bezug zur Hauptfigur eine sehr genau gewählte Position. Ihre kollektive Funktion ist es, Alex‘ Entwicklung zu kontrastieren, illustrieren und zu unterstützen. Auf dem Weg hin zum Tod und zurück zu sich selbst findet er in seiner Empathie gegenüber scheinbar Schwächeren den Weg zur eigenen inneren Stärke.

Diese Reise auf allen Ebenen der Menschlichkeit ist packend, emotional und mitreißend. Die Wucht der Gefühlswelten, die in und um Alex entworfen und ausgefeilt werden, ist das Bewundernswerte am Roman.

Deswegen ist es auch schwer, ihn nach dem ersten Drittel noch aus der Hand zu legen.


„Immer noch wach“ ist eine mutige und Aufmerksamkeit verdienende Ausarbeitung einer außergewöhnlichen Geschichte.

Das Thema Krebs ist an sich harter Tobak – doch für diejenigen, die mit einer solchen Thematik in diesen Zeiten umgehen können, ist Neidhardts Debüt definitiv lesenswert.


Bibliografie:

Titel: Immer noch wach
Autor: Fabian Neidhardt
Seitenzahl: 268
Erscheinungsdatum: 16.02.2021 Verlag: Haymon
ISBN: 978-3-7099-8118-4

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