Cho Nam-Joos Roman über die Psychose einer jungen koreanischen Frau ist zum weltweiten Bestseller geworden und hat in Korea sogleich Massenproteste ausgelöst.
Warum ist diese im minimalistischen Stil verfasste Erzählung so beliebt und gleichermaßen so beunruhigend?

Kim Jiyoung ist eine junge Ehefrau und Mutter. Sie wohnt mit ihrem Ehemann und neugeborenen Sohn am Rande der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und hat vor kurzem ihre berufliche Beschäftigung zugunsten der Familie aufgegeben – wie es sich eben für eine Frau ihres Alters gehört.
Plötzlich beginnt Jiyoung sich seltsam zu benehmen und die Persönlichkeiten anderer Frauen aus der Familie und der Familie ihres Mannes nicht nur zu imitieren, sondern gänzlich anzunehmen.
Doch woher kennt sie die Manierismen der Urgroßmutter?
Eine unheimliche und vor allem für den Ehemann unangenehme Angelegenheit.
Glücklicherweise kann er seine Frau schnellstens in eine psychiatrische Behandlung übergeben, bevor sie weiteren Familienmitgliedern Unannehmlichkeiten bereitet – auf die emotionalen Bedürfnisse der jungen Frau muss nämlich nicht geachtet werden.
Der Roman erzählt in sachlich-knappem Ton Jiyoungs Lebensgeschichte von ihrer Kindheit über die Schulzeit bis zur universitären Ausbildung und beruflichen Laufbahn. Alle Phasen haben dreierlei Gemeinsamkeiten: ständige Rücksichtnahme auf alle Männer im familiären und beruflichen Umfeld, obligatorische Nutzung konventioneller Verhaltens- und Ausdrucksformen und waltende Angst vor Übergriffen von Männern zu allen Tageszeiten und an allen Existenzorten.
Egal, ob der Banknachbar in der vierten Klasse, der kleine Bruder im benachbarten Zimmer oder der Kollege im nächsten Büro – Männer stehen nach Geburtsrecht immer vor Frauen. Sei es die Vergabe der Personenidentifikationsnummer, der Rang in der Schlange zum schulischen Mittagessen oder die Empfehlungsschreiben für Firmen: Männer kommen als erste dran, Frauen mit überdurchschnittlichen Leistungen oder besonderen Bedürfnissen werden grundsätzlich vollständig ignoriert.
„Tatsächlich hatte Jiyoung als Mädchen gar nicht wahrgenommen, dass ihr Bruder eine Sonderbehandlung bekam, und war daher nie neidisch auf ihn gewesen.
Einfach weil es immer so gewesen war.„
Je länger ich über das Buch nachdenke, desto weniger wundere ich mich über die erwähnten Massenproteste in Korea.
Der Roman schildert diverse Episoden aus Jiyoungs Leben, anhand welcher bemerkbar wird, dass sie sogar eine verhältnismäßig privilegierte Existenz genießen darf: Ihre Mutter und ältere Schwester äußern sich wortkräftig zu der versuchten Machtübernahme des jüngsten Bruders, ihr Verlobter nimmt Rücksicht auf ihre beruflichen Bestrebungen, eine ältere Dame hilft ihr aus einer äußerst prekären Situation; ihre direkte Vorgesetzte im Büro ist eine Frau, die sie fördert. Eine beachtliche Sammlung an glücklichen Fügungen also, die die wenigsten Frauen in Südkorea genießen dürfen.
Jede einzelne von diesen Anlaufstellen würde im negativen Ausgangsfall ein lebensgefährliches Potential an Missbrauch, häuslicher Gewalt, Unterdrückung und daraus resultierenden tiefen Traumata mit sich bringen.
Dass Jiyoung ein größtenteils gutes Leben haben soll, ist dennoch eine geradezu absurde Folgerung. Der sachliche Stil der Erzählung kaschiert die emotionsbeladenen, tief prägenden Erfahrungen und das mühevolle Leben der jungen Frau nicht. Auch in ihr werden bereits in der Schulzeit bleibende Spuren von Furcht und Scham aufgrund von Männern verursachten Traumata hinterlassen.
Wäre die Erzählung stilistisch anders gestaltet, wäre die Begleitung von Jiyoungs mit Hindernissen und Hürden erfülltem Leben sicherlich im hohen Maß erschwert und emotional zu belastend. Nam-Joo erzählt jedoch fließend, komponiert auf kompakte Art und Weise, geht gekonnt mit Fakten und Statistiken um, verfasst dynamische Beschreibungen, formuliert wenn möglich humorvoll. Der Text ist also verhältnismäßig angenehm zu lesen, der Inhalt zugleich interessant und empörend. Ergreifend, informativ, lesenswert.
Nam-Joo listet Quellen für ihre Statistiken und Informationen auf – ich frage mich, ob sie fürchtete, dass internationale Leser Jiyoungs Situation als dermaßen absurd einschätzen, um ihr keinen Glauben zu schenken? Ein drückender Gedanke.
„Ich habe ein Kind geboren, unter Schmerzen, und wäre beinahe daran gestorben.
Ich habe auf mein Leben, meine Träume, meine Zukunft, ja mein ganzes Selbst verzichtet,
um das Kind zu erziehen.
Und dann bin ich plötzlich Ungeziefer.
Was soll ich denn jetzt machen?„
Gemäß des vom Gesundheitsministerium übernommenen Richtlinien-Katalogs der Homepage der Stadt Seoul sollen Frauen während der Schwangerschaft ältere Kleidung sichtbar aufhängen, um sich die frühere Figur vor Augen zu führen. Um eine Gewichtszunahme zu vermeiden, empfiehlt der Staat, Putzen als regelmäßige Sporttätigkeit ausüben. Vor der Entbindung soll die Frau für ihren Mann selbstverständlich vorkochen, da dieser dazu selbst nicht fähig sei. Schließlich gilt es, sich zur Geburt ein Haarband zu besorgen, da die ungewaschenen Haare unattraktiv aussehen. (1)
„Für die drei oder sieben Tage, die Sie im Krankenhaus verbringen werden, bereiten Sie saubere Unterwäsche, Socken, Hemden, Taschentücher und Oberbekleidung für Ihren Mann und Ihre Kinder vor und hinterlassen diese ordentlich in einer Schublade.“
Auf der Webseite von Seoul wurden diese „Tipps“ aufgrund einer öffentlichen Aufruhr vor einiger Zeit entfernt. Bis sich auch die faktische Situation in Korea ändert, wird wohl eine weitere Generation an Frauen heranwachsen müssen.
Cho Nam-Joo hat mit „Kim Jiyoung“ einen wichtigen Beitrag zum Diskurs geleistet. Doch dass es am Ende noch nicht einmal Jiyoung selbst ist, die ihre Geschichte erzählen durfte, ist interpretativ kein gutes Zeichen.
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ – ein Roman, den es als reflektiertes Individuum also dringend zu lesen und zu studieren gilt. Und dennoch ist die Erzählung auch ohne soziokulturelle Kontextualisierung und die Zentrierung auf den weiblichen Freiheitskampf ein außergewöhnlicher Text voller Spannung, Wendungen und Überraschungen.
Eine uneingeschränkte Leseempfehlung!
Bibliografie
Titel: Kim Jiyoung, geboren 1982
Autor: Cho Nam-Joo
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 11.02.2021
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05328-9
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(1) Spiegel: Sexismus-Eklat in Südkorea
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Kategorien:Home, Neuerscheinungen
Klingt nicht uninteressant, allerdings frage ich mich, ob es sich um eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis handelt, oder um eine Störung aus dem dissoziativen Bereich. Du schriebst:
„Plötzlich beginnt Jiyoung sich seltsam zu benehmen und die Persönlichkeiten anderer Frauen aus der Familie und der Familie ihres Mannes nicht nur zu imitieren, sondern gänzlich anzunehmen.“
Das klingt für mich eher nach einer multiplen Persönlichkeit (bzw dissoziativen Störung) und nicht nach einer schizophrenen Psychose. Bei einer derartigen Psychose hören die Betroffenen Stimmen, leiden unter ungewöhnlichen Überzeugungen (Wahnvorstellungen) etc… Ich habe das Buch nicht gelesen, aber… Kann es sein, dass die Autorin Psychose und multiple Persönlichkeit miteinander verwechselt? Dies würde auf mangelnde Recherche hinweisen, was ziemlich ärgerlich wäre! Ich lese sehr gerne Bücher zu diesem Thema, aber nur dann, wenn der Autor auch weiß, wovon er schreibt. Denn: Die Schizophrenie (bzw schizophrene Psychose) wird auch heute noch von der Allgemeinheit allzu häufig mit der multiplen Persönlichkeitsstörung verwechselt, was schlicht und einfach falsch ist. Oder spricht die Autorin eher von einer dissoziativen Störung? Dies würde ich gerne wissen, bevor ich mich für den Kauf dieses Buches entscheide.
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Danke für den interessanten Kommentar. Da ich in diesem Gebiet Laie bin und der Schwerpunkt des Romans woanders liegt, würde ich Dir hierzu empfehlen, die Leseprobe auf der Verlagsseite zu Rate zu ziehen. Lieben Gruß, Sandra
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