Literarische Abenteuer. Sharon Dodua Otoo: „Adas Raum“

Britisch-Deutsche Autorin Sharon Dodua Otoo hat mit „Adas Raum“ eine eklektische Reise durch Zeiten, Kulturen und Biografien entworfen. Der esoterisch angehauchte Roman demonstriert mittels ungewöhnlicher Perspektiven und unerwarteter Zusammenhänge, auf welche Art und Weise Menschenleben zueinander gebunden sind.

Aber was hat das ganze mit Reisigbesen und Türklopfern zu tun?


© S. Fischer

Ada begräbt im 15. Jahrhundert in Totope, Ghana ihr neugeborenes Kind. Hat im 19. Jahrhundert in Stratford-le-Bow, England eine Affäre mit Charles Dickens.

Ada erfährt vollständigen Verlust körperlicher Autonomie im Konzentrationslager Mittelbau-Dora am Kohnstein bei Nordhausen in 1945. Erlebt impliziten Rassismus in Berlin in 2019.

Otoo bindet diese Frauen, die alle entweder Ada heißen oder von anderen so genannt werden, aufgrund der Hoch- und Tiefpunkte ihrer Existenz aneinander.

Ihre Qualen, ihre Unterdrückung, Diskriminierung, fehlende Freiheit und notwendige Selbstopferung als Mutter, Ehefrau oder Tochter zeichnen ihre kollektive Identität aus. Nur im Romantitel hat Ada einen Raum, den sie tatsächlich besitzt – in keiner ihrer Leben wird ihr einer gewährt.


„Ihre menschenähnliche Hülle blieb dann stets im Zimmer,
bereit für die, die kommen würden,
während sie selbst nach draußen driftete
und sich vor das Fenster legte.“


Als gelungenes Experiment ist die kritische Darstellung der Geschichtsverzerrung und -Leugnung hervorzuheben. Die Erzählperspektive wird nämlich von diversen personifizierten Objekten übernommen: Ein Reisigbesen, ein Türklopfer, ein Zimmer und ein Reisepass schildern ihre Sicht auf Adas Wandlung durch ihre Leben. Die unparteiische Perspektive der die Geschichte beobachtenden Objekte bringt kritische Aspekte des Kolonialismus sowie der die Weltgeschichte prägenden europäischen Tyrannei deutlich zur Geltung.

Überdies haben die Objekte scheinbar ein höheres Bewusstsein – der Geist oder das Wesen, welches sich in ihnen befindet, reist problemlos durch die Jahrhunderte, verhandelt mit Gott, welches Ding es als nächstes sein soll, und ist in voller Kenntnis von der Bindung zwischen den Adas. Der Protagonistin selbst fällt es jedoch schwer, ihr vorheriges Leben aufzurufen, sobald sie das nächste betreten hat. In kurzen Visionen kehrt die Vergangenheit gelegentlich zu ihr zurück.

Der Kreis schließt sich in Berlin, als die Ur-Ada mit der Jetzt-Ada vereint wird. Jetzt-Ada werden endlich die zwei Schätze zugesprochen, die Ur-Ada im 15. Jahrhundert verloren hat.


Es ist nicht immer einfach, dieser Geschichte zu folgen. Als ob die exaltierten Perspektivenwechsel das allgemeine Verzehrtempo nicht schon genug in die Höhe treiben würden, stellt Otoo noch sprachliche Rätsel, indem sie unvermittelt Ausdrücke der Ga-Sprache benutzt, denen der Leser selbstständig auf den Grund gehen muss, wenn der volle Kontext verstanden werden soll. Zudem verzieren Liedchen und Strophen einige der biografischen Fragmente der Adas, die der Erzählung einen geradezu expressionistischen Hauch verleihen.

Jedoch gibt es ausreichend Momente der Klarheit und kohärenter Eindrücke, um den Botschaften der Adas eine sichere Stellung im Erzählraum zu gewähren.

Einer dieser markanten Momente ist die Perspektive des Zimmers im KZ – die Schmerzen der eigenen Passivität, der Wille den Frauen aus ihrer Situation zu helfen und gleichzeitig die vollständige Hilflosigkeit, weil der Sehende ein handlungsunfähiges Objekt ist, bringt die Emotionen der wahren Opfer innerhalb der Geschichte der Unterdrückung von Minderheiten auf den Punkt.

Auch wird die Mentalität der Täter im Rahmen der übergreifenden Thematik des Vergessens und Verdrängens ungeschönt zur Geltung gebracht:


„…bereits in den ersten Tagen nach Adas Tod würde er verdrängen, dass er sie jemals gesehen hatte. Nur so wird es ihm bis zum Ende des Krieges möglich sein, ganz ohne lästige Gewissensbisse, seine Mitmenschen weiterhin zu foltern und ermorden.“


Ebenso ist das semantische Feld der Introspektive des Reisepasses von großer Bedeutung: Die Tatsache, dass der Pass wertvoller sei als sein Besitzer, ist weiterhin aktuell, wenn es um Themen wie Asyl, Minderheiten, Migration und Integration geht.


„Adas Raum“ ist ein ungewöhnlicher Roman voller Zeitsprünge, nichtlinearer Gedanken – selten explizit kohärent und kaum in Besitz einer klaren Erzähllinie. Doch das ist hier auch nicht Sinn der Sache. Es geht um Kritik, Reflexion und Betonung der Tatsache, dass Ada auch in 2019 unakzeptable Lasten mit sich tragen muss, deren Gründe nicht so weit von Adas Trauer in 1459 abweichen.


„In Ghana wurde Ada schleichend zur Frau und bekam es kaum mit.
In Deutschland wurde Ada schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.“


Material zum Nachdenken liefern die Adas und ihre Begleitobjekte reichlich. Obgleich der beizeiten sehr weit ausgestreckten esoterischen Schattierung – Otoo liefert eine wertvolle, reflektierte Sammlung unschmackhafter Wahrheiten über Geschichtsschreibung, Frauenrechte und Rassismus, die es weiterhin gilt, zu betonen und zu bekämpfen.


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Adas Raum
Autor: Sharon Dodua Otoo
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 24.02.2021
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397315-0

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