Literarische Abenteuer. Fiona Mozley: „Elmet“

Fiona Mozleys düsterer Debütroman erzählt über den individualistischen Überlebenskampf einer Familie und behandelt zahlreiche komplexe Themen: Freiheit und Autonomie, Harmonie und Gewalt, Individualität und Akzeptanz.

Teile des Romans sind außerordentlich authentisch. Allerdings kann die Komposition mit dem Stil kaum mithalten. Lohnt sich das Leseerlebnis?


© Penguin Random House

John Smythe und seine Kinder Cathy und Daniel leben in Harmonie mit der Natur: sie nehmen sich, was sie brauchen, und sie brauchen wenig.

Das Haus und die darinstehenden Möbel hat die Familie zusammen gebaut. Ihr Gemüse wird aus dem eigenen Beet geerntet, Fleisch und Geflügel aus den naheliegenden Wäldern gejagt und geschlachtet.

Meistens allerdings auf Arten, die für andere unergründlich bleiben. Denn ihre Gewohnheiten, Ansichten und Fähigkeiten stammen aus einer scheinbar anderen Welt.

Obwohl die Smythes lediglich autark leben und sich um ihr Land kümmern möchten, droht eine ständige Gefahr, ihr Zuhause wieder zu verlieren – denn wohlhabende, habgierige Männer möchten es ihnen wegnehmen.


Mit Lob auszuzeichnen ist der Schreibstil des Romans, der mit seiner Fülle an Emotionen und Intensität an D. H. Lawrence erinnert. Mozley legt ihre Figuren willkürlich zwischen Brocken wilder Natur, lässt die Gerüche, Farben und Geräusche ihrer liebsten Orte auf den Leser wirken und beschreibt auf eine rohe Art und Weise die vollständige Selbstständigkeit beider Jugendlicher. Ebenso bemerkenswert sind die Figurendynamiken, die gleichermaßen als beeindruckend und beunruhigend gelten.


„Er wollte, dass wir abseits blieben, für uns, abgesondert von der Welt. Wir sollten, wie er sagte, die Chance haben, unser eigenes Leben zu führen.“ 1


Weder Cathy noch Daniel haben kaum soziale Fähigkeiten, ästhetische Ansprüche an sich selbst oder ein aufgeklärtes Bewusstsein, was ihre individuellen Körper und Verhaltensweisen betrifft. Beide weichen von der respektiven Gendernorm ab, da ihnen traditionelle soziale Rollen nie zugesprochen worden.

Sie sind reine Individuen ohne konventionelles Geschlecht, normative Sozialisierung und einer reellen Vorstellung über ihre eigene Position in der menschlichen Gesellschaft. Andererseits sind die handwerklich geschickt, intelligent, kräftig und ausdauernd, treffsicher und strapazierfähig. Diese Eigenschaften kommen ihnen im Laufe des Kampfes mit ihren Gegnern auch zugute. Nicht zu übersehen ist ihre Prägung nach dem Vorbild des Vaters:


„Dein Daddy braucht […] die Gewalt. […] Sie stillt seinen Durst.“2


John ist ein überdurchschnittlich großer, starker Mann, der seinen Lebensunterhalt mit Boxkämpfen und Gelegenheitsarbeiten verdient. Seine Unabhängigkeit hat er mit seinem Körper erarbeitet. Diesen möchte er allerdings nicht mehr knechten lassen, weswegen es auch zum finalen Kampf zwischen ihm und dem Landbesitzer, Mr. Price, samt seiner zahlreichen Handlanger, kommt.

Dem Stärksten gebührt die Macht, dies scheint in dieser Erzählwelt die allgemein bekannte Regel zu sein. Im Klimax des Romans wird Blut gegossen und verbrannt – doch nimmt eine andere Person unerwartet die Position des Rächers ein und entsetzt damit das gesamte Dorf weit über das erwartbare hinaus.


Ohne entscheidende Details zur Geschichte verraten zu wollen: „Elmet“ zeigt ungeschönt und auf eine verstörende Art die unumgehbare Gewalt zwischen Feinden, unveränderbare Machtstrukturen zwischen reich und arm, und die unüberwindbaren Hürden beim Aufstieg in einer Klassengesellschaft.

Die Autorin bringt zwar eine deterministische Philosophie zutage, bietet dennoch Raum für individualistische Existenzen. Ihre Figuren und Erzählwelt sind erfrischend unapologetisch, beruhen auf ihrem eigenen Wertesystem und gehen nicht auf Kompromisse ein. Dies ist zwar bewundernswert, bedingt allerdings auch ihr Scheitern.


Zu bemängeln ist die Gesamtkonstruktion der Geschichte – die einzelnen Ereignisse, die zur Kulmination führen, sind auf einer Ideenebene als kollidierende Ideologien faszinierend. Allerdings ist die Handlung zum Teil sehr holprig und hinterlässt einen gekünstelten Eindruck. Es fehlen ab und zu notwendige Übergänge auf der Handlungsebene.

Ebenso bleibt die Figur des Ich-Erzählers weitestgehend widersprüchlich, unerforscht und schwach – es hätte gutgetan, sich explizit für die Darstellung der Geschichte mit starker Betonung der Schwester- und Vaterfigur zugunsten der vollständigen Vernachlässigung des Bruders zu entscheiden, da in dieser Hinsicht noch einige Unlogiken und Fragen in der Luft hängen bleiben. Alternativ wäre eine Explikation von Daniels Verwirrung bezüglich der beginnenden Selbstfindung für die progressive Natur der Geschichte günstig gewesen.

Von diesen Aspekten abgesehen ist „Elmet“ ein herausragendes Debüt, welches insbesondere Lesern von Romanen aus dem 19. Jahrhundert und Geschichten über menschlichen Schicksalen in wilder Natur einen großen Lesegenuss verspricht.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Elmet
Autor: Fiona Mozley
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 09.11.2020
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-77043-4

1 2 Zitate: 1) S. 55; 2) S. 99.


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