
Die Kanadische Autorin Margaret Atwood ist zurzeit vor allem für den dystopischen Roman „Der Report der Magd„* (Handmaid’s Tale, 1985) und dessen im letzten Jahr deutschsprachig erschienenen Nachfolger „Die Zeuginnen„* (The Testaments, 2019) bekannt. Darüber hinaus hat die Autorin allerdings Lesenswertes in zahlreichen Genres veröffentlicht.
„Der blinde Mörder“ (The Blind Assassin, 2000) vereint Atwoods vielfältige Erzählwelten in einem Komplexen Sammelsurium, in dem der Leser sich fortweilend zwischen Realität und Fiktion befindet. Der Roman erzählt fantastische und lebensnahe Geschichten, die alle mit Blut, Tränen, großen Träumen und schweren Enttäuschungen versehen sind.

Die Handlung verläuft auf drei ineinander gewobenen Ebenen von unterschiedlicher Fiktivität – Atwood bewegt sich bewusst und gekonnt zwischen offensichtlicher Fantastik und trügerischem Realismus.
Im Mittelpunkt der Geschehnisse steht der Werdegang eines Familienunternehmens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Ontario, Kanada. Als Herzkammern der Geschichte fungieren zwei Schwestern, die sich gravierend voneinander unterscheiden. Die eigensinnige Laura strebt gegen jeglichen Konventionalismus, rebelliert gegen ihren Vater und begebt sich regelmäßig in Lebensgefahr.
Die ältere Schwester Iris, aus deren Sicht die Familiengeschichte retrospektiv erzählt wird, ist pflichtbewusst, sorgt sich aktiv ums finanzielle Wohl der Familie, heiratet den vom Vater auserwählten Mann und tut nach dem Tot der Mutter alles für den emotionalen Zusammenhalt der Schwestern.
Dennoch stellt sich auch ihr Leben schließlich als Katastrophe fest: im Laufe der Geschichte entstehen zunehmend schockierende Konflikte, entpuppen sich dunkle Familiengeheimnisse und unmenschliche Taten, bis sich nicht nur Individuen, sondern Generationen gegeneinander wenden.
„What had she been thinking of as the car sailed off the bridge,
then hung suspended in the afternoon sunlight, glinting
like a dragonfly for that one instant of held breath before the plummet?„1
Die Tatsache, dass Laura einen Roman mit Kultstatus veröffentlicht haben soll, ist an eine parallel mit der Haupthandlung fortlaufende Liebesgeschichte gebunden, die aus Lauras Romankapiteln besteht. Bis zum Ende der Geschichte bleibt jedoch unklar, wer die in dieser Affäre aneinander gebundenen Individuen eigentlich sind – die Enthüllung ist zwar erwartbar, dennoch zieht das Unwissen sich als zusätzlicher Spannungsbogen erfolgreich durch den Roman hindurch.
Darüber hinaus wird eine vom Liebhaber der fiktiven Heldin fortgeführte Fantasy-Erzählung als Binnenerzählung der Binnenerzählung eingebettet. Diese besonders brutal und ausdrucksstark gestaltete Geschichte liest sich wie eine Mischung aus „Tausendundeiner Nacht“ und „Dune – Der Wüstenplanet“.
Als Abschluss zu den Treffen wird zeitgleich auch das Fantasiestück weitererzählt, was an die Struktur der Märchensammlung erinnert. Assoziationen mit Märchenhaftem sind jedoch trügerisch: die als Genuss der namenlosen Sie fortgeführte Kreativitätsübung dient nur zur Ablenkung von der fehlenden Zuneigung und dem gefühllosen Umgang, den der namenlose Er während der gesamten Affäre zutage bringt.
„They’ve employed the most skilful of the blind assassins,
a youth who was once a weaver of rugs and then a child prostitute,
but who since his escape has become renowned for his soundlessness,
his stealth and his pitiless hand with a knife.“
Die psychologische Komplexität der Beziehungen innerhalb beider Familien, die narratologische Gewundenheit der Handlung und die sich langsam offenbarende allgemeine moralische Ambivalenz werden von Atwood sorgfältig niedergeschrieben und enthüllen sich Kapitel nach Kapitel immer mehr.
„From here on in, things take a darker turn.
But then, you knew they would.
You knew it, because you already know what happened to Laura.“
Es ist nicht einfach, „Den blinden Mörder“ als Gesamtes zu konsumieren. Der Roman verlangt Konzentration und Investment. Er transportiert in einer schnellen Reihenfolge an so viele unterschiedliche Orte und in so viele diverse Gemütszustände, dass bereits das Ratespiel, welche Figuren nun eigentlich in welcher Erzählwelt real und konsequent sind, Unmengen an Spannung erzeugt.
Dieses kompositorische Hin-und-her kann einem Leser entweder zu anstrengend werden oder für eine gefühlsintensive Lektüre sorgen. Persönlich konnte „Der blinde Mörder“ meinen absoluten Lieblingsroman von Atwood, „Katzenauge„* nicht übertreffen – die psychologischen Feinheiten und die geradezu sanfte Brutalität zwischen den Freundinnen, die einander mit äußerster Zielstrebigkeit tiefgründig traumatisieren, stellen für mich weiterhin eine Faszination ohnegleichen dar.
In Anbetracht dieser verbleibenden Rangordnung ist Atwoods herausragende Leistung in puncto Komposition, psychologische Vielschichtigkeit und sprachlicher Transzendenz auch in diesem Roman mehr als offensichtlich.
„Der blinde Mörder“ spricht meines Erachtens insbesondere diejenigen ihrer Leser:innen an, die sich bisher an ihren an Fantasy und Krimi anlehnenden Romanen erfreut haben. Den Verehrern von „Der Report der Magd“ möchte ich eher „Katzenauge„* oder „Lady Oracle„* ans Herz legen.
Hast Du bereits etwas von Margaret Atwood gelesen? Welchen Roman der Autorin würdest Du vor allem empfehlen?
Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!
Hier geht’s zur Leseprobe („Blick ins Buch“).
1 – Zitate aus der englischsprachigen Ausgabe, erschienen 2019 im Little, Brown Book Group (S. 4; 146 und 509)
Bibliografie:
Titel: Der blinde Mörder
Autor: Margaret Atwood
Seitenzahl: 704
Erscheinungsdatum: 02.10.2017
Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492-31348-3
Der blinde Mörder bestellen: Thalia * | Hugendubel * | bücher.de * | buch24.de *
Mehr Atwood:
Cages we Build for Ourselves: Thoughts on Margaret Atwood
Mehr literarische Abenteuer:
Annalena McAfee: „Blütenschatten“
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