
Der britische Autor George Orwell ist vor allem für seinen dystopischen Roman „1984“ bekannt. Dennoch offenbart die allegorisch-satirische Fabel „Farm der Tiere“ in seiner kurzen Form genauso viel ungeschönte Wahrheit über Orwells zeitgenössische politische Situation – wenn nicht noch mehr. Denn die Geschichte ist ein direktes Abbild der stalinistischen Diktatur in der damaligen Sowjetunion.
Warum gilt dieses als „Märchen“ untertitelte Bändchen von Orwell gerade heute als dringende Lektüre – gar mehr als im Veröffentlichungsjahr 1945?

Als er die Fabel in den Jahren 1943-44 verfasste, hatte Orwell zunächst mit strenger Zensur zu kämpfen.
Das Informationsministerium fürchtete eine Belastung der britisch-sowjetischen Beziehungen (litkrit) und verhinderte die Veröffentlichung des Buches aktiv – da Orwell mit der Fabel über die „hässliche Seite des Stalinismus“ (LitReich) aufklären und unterrichten wollte.
Dies galt es im England der Nachkriegszeit zu verhindern.
Vergleichsweise steht das zunächst lokal und international verpönte Bändchen nun auf Bestenlisten des 20. Jahrhunderts und gehört zumindest in europäischen Ländern zur Schullektüre.
In den stalinistischen Staaten – und in der DDR – stand das Buch jedoch bis 1989 auf dem Index verbotener Bücher. In Simbabwe, Burma und in einigen ‚ultra-konservativen Golfstaaten‘ blieb es noch länger verboten. (sozialismus.info)
„Farm der Tiere“ ist auf den ersten Blick ein stilistisch schlichtes Märchen über einen Bauernhof und seine vierbeinigen Einwohner. Schweine, Pferde, Hunde, Schafe und Hühner werden auf eine leichte, humorvolle und sympathische Art beschrieben und als laute, bunte Familie der Farm gezeigt.
Allerdings leiden die Tiere unter der fahrlässigen Behandlung ihres Besitzers, des gewalttätigen Alkoholikers Farmer Jones, der gerne seine Peitsche benutzt und im Vollrausch des Öfteren vergisst, seine Tiere zu füttern. So ist es kaum überraschend, dass die Schweine der Farm die anderen Tiere zu einem Aufstand aufrufen, um sich aus ihrer kläglichen Situation zu befreien:
„Machen wir uns doch nichts vor: Unser Leben ist
armselig, arbeitsreich und kurz.“(10)
Der Farmer Jones wird erfolgreich vom Hof verjagt, was die Tiere mit einem angenehmen Einheitsgefühl erfüllt. Zusammen triumphieren sie singend über die niedergeschlagene Unterdrückung und erfreuen sich einer neuen Gleichheit, die sicherlich zu einer angenehmen Existenz in agrarwirtschaftlicher Blüte führen wird.
Doch da es sich um eine Fabel handelt und die meisten Tiere politische Spieler im stalinistischen Regime repräsentieren, ist eine neue Welle von Korruption und Unheil nicht weit entfernt.
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Ob der Untertitel „Märchen“ bei der Veröffentlichung dienlich war, ist schwer zu sagen, denn bei der gesamten Geschichte handelt es sich offensichtlich um Satire. Daher ist „Farm der Tiere“ nicht als Dystopie, sondern als reiner Gegenwartsspiegel zu lesen, denn genaue Parallelen sind klar erkennbar:
„So ist in dem Eber Napoleon ein Abbild Stalins zu erkennen, dessen brutaler Terror sich in den tyrannischen Anordnungen Napoleons widerspiegelt. Schneeball verweist auf Leo Trotzki, der zunächst gemeinsam mit Stalin die Revolution anführte, dann aber von diesem zunehmend entmachtet und ins Exil getrieben wurde.“ (litkrit)
Bis zum kleinsten Detail wie die von den Tieren gehisste Fahne mit Huf und Horn, die offensichtlich auf Hammer und Sichel deutet, stellt die Fabel die sowjetische politische Landschaft dar.
Prägnant und treffend formuliert ist die Sachlage mit dem Motto: „Schweine sind auch nur Menschen“ (Dlf Kultur) zusammenzufassen – ein Vergleich, der den Akteuren der Geschichte nicht gerade schmeichelt.
Orwells Erzählung fließt im leicht verständlichen und lockeren Ton und Stil weiter, während die Schweine ihre Herrschaft über die anderen Tiere ausüben. Und doch ist diese Fabel eine detailgetreue Studie zur politischen Korruption, Verbreitung von Angst vor dem Unbekannten unter einem Volk und der Verzerrung von Geschichte und Fakten in Form von Propaganda.
Die Schweine rechtfertigen ihre Entscheidungen stets mit dem Gemeinwohl – welches selbstverständlich mit ihrem Wohl gleichzusetzen ist. Selbstverständlich sollten ihnen dementsprechend auch Vorteile bei der Verteilung von Komfort, Luxus und Lebensmittelvorräten gebühren:
„Das Management und die Organisation dieses Betriebs hängen vollständig von uns ab.
Dabei ist unser oberstes Anliegen euer Wohlergehen. Von daher dient es eurem Wohl,
dass wir diese Milch trinken und diese Äpfel essen.“(40)
Der offensichtliche Missbrauch von Vertrauen und Verfälschung von Tatsachen stehen dem Leser sofort vor Augen – umso ärgerlicher ist es, als Leser die Leichtigkeit zu beobachten, mit der die gutgläubigen Tiere sich manipulieren lassen.
Auch wenn die Fabel ihren Stil behält und es zeitweilen amüsant ist, zu verfolgen, wie ein Pferd eine Windmühle baut oder ein Schwein Alkohol trinkt – die schwerwiegende Botschaft der Erzählung schimmert durch den erzählerisch leicht gewobenen Vorhang hindurch.
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Besonders die Anwendung von Angst als Mittel zur Lenkung von Massen wird mit den ständigen Ermahnungen der Schweine über das lauernde Ende der angeblichen allgemeinen Gleichheit, Freiheit und Blütezeit auf der Farm der Tiere illustriert:
„Nur ein falscher Schritt, und schon würden unsere Widersacher uns zu Fall bringen.
Und ihr wollt doch nicht etwa, das Jones zurückkommt?„(61)
Gerade an dieser Stelle – und ebenso anhand der von den Schweinen als fake news eingeläuteten echten und den nebenher angebotenen alternativen Fakten – sind offensichtliche Parallelen zu genügend zeitgenössischen Politikern und Staatsoberhäuptern zu ziehen.
Es gibt weiterhin viel zu viele Länder, in denen die skrupellose Unterdrückung von Minderheiten, die Bekämpfung sozialer und geschlechtlicher Gleichheit – oder die Verweigerung grundlegender Menschenrechte – zum Alltag gehören.
Wie „normal“ und „leicht“ es ist, solche Manöver durchzuführen, und wieso ein denkendes Individuum lernen sollte, Medien mit einem kritischen, analytischen Blick zu begegnen, kommt in „Farm der Tiere“ auf eine äußerst markante Art zur Geltung.
Denn Menschen können zu Schweinen werden – auch wenn Schweine nur bei Orwell auf zwei Beinen laufen.
„Farm der Tiere“ ist auch für zeitgenössische Diskurse ein äußerst wichtiges Buch, welches in möglichst großen Leserunden behandelt werden sollte. Es ist nur zu hoffen, dass diese Fabel weiterhin sowohl als Schullektüre berücksichtigt und von Jugendlichen analysiert und besprochen, als auch in erwachsenen Kreisen wiederholt in Erinnerung gerufen wird – denn Orwells satirische Realitätsspiegelungen haben auch in 2021 keinen Tropfen an Aktualität verloren.
Hast Du „Farm der Tiere“, „1984“ oder Orwells Essays gelesen? Können seine Werke grundsätzlich miteinander verglichen werden?
Welche Autor:innen haben ebenso spannende dystopische Werke geschrieben, die Du empfehlen würdest?
Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Farm der Tiere. Ein Märchen
Autor:in: George Orwell
Übs.:in: Heike Holtsch
Seitenzahl: 144
Erscheinungsdatum: 18.01.2021
Verlag: Anaconda
ISBN: 978-3-7306-0977-4
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Mehr zum Buch:
Dlf Kultur: Schweine sind auch nur Menschen
literaturkritik.de: Eine Satire gegen jedes totalitäre System
LiteraturReich: George Orwell – Farm der Tiere und 1984 – Neuübersetzungen
sozialismus.info: Neu gelesen: die „Farm der Tiere“ von George Orwell
Mehr literarische Abenteuer:
Literarische Abenteuer. Margaret Atwood: „Der blinde Mörder“
Literarische Abenteuer. Ryūnosuke Akutagawa: „Rashomon. Erzählungen“
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Es gibt Bücher, die mich seit Jahrzehnten begleiten. „Farm der Tiere“ ist eines davon. Zur Pflichtlektüre gehörte es Mitte der 60er nicht, gelesen haben es die meisten von uns in der Oberstufe. Nicht nur „Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher“ ist über Jahrzehnte immer wieder zu verschiedenen Gelegenheiten zitiert worden, aber auch der Sinn dieses „Märchens“ ist in Erinnerung geblieben. Orwell hat es so verständlich erzählt – und das ist der Unterschied zum wesentlich komplexeren „1984“, das immer wieder herangezogen wird, um Orwells Fiktion mit der Wirklichkeit zu vergleichen – was besonders 1984 und in den Jahren drumherum geschah.
Auf die Neuübersetzung von „Farm der Tiere“ bin ich sehr gespannt. Erkennt man Neues darin? Heutiger Zeitgeist? In Kürze werde ich es wissen.
Bei „Fänger im Roggen“ ist mir noch immer die ursprüngliche Böll’sche Übersetzung ans Herz gewachsen. Die neue Schönfeld’sche trifft nicht den alten Zeitgeist, wie ihn Salinger erfasst hat.
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Eine sehr spannende Frage – mit sind bei der Recherche zwar Unterschiede bei der Übersetzung aufgefallen, doch kann ich diese nicht wirklich qualitativ einstufen, lediglich wird z.T. eine andere Wortwahl genommen. Ggf. geben Dir die Zitate und die verlinkte Leseprobe eine kleine Idee zur Übersetzung. Lieben Gruß
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