Der Schatten hinter dir. Fatma Aydemir: „Dschinns“

Die deutsche Autorin, Kolumnistin und Redakteurin Fatma Aydemir veröffentlichte ihr Romandebüt „Ellbogen“ im Jahr 2017. Ihr zweiter Roman „Dschinns“ ist soeben erschienen. In beiden Büchern finden sozialkritische Auseinandersetzungen mit diversen Facetten türkisch-deutscher Kulturgeschichte statt.

Welche der sechs Protagonist:innen in „Dschinns“ ist eigentlich ein:e Antagonist:in – und warum wird dieser Roman jedem Lesenden gnadenlos am Herzen zerren?


© Hanser Verlage

Fatma Aydemir hat mit „Dschinns“ sowohl einen Familienroman als auch einen Gesellschaftsroman geschaffen.

„Dschinns“ handelt von einer sechsköpfigen Familie mit kurdischen Wurzeln, deren Familienvater als Gastarbeiter in den 1960er Jahren mit einem Traum nach Deutschland gekommen ist.

So erfahren Lesende im ersten Kapitel, wie Hüseyin sich nach dreißig Jahren als Gastarbeiter in Deutschland endlich eine Wohnung in Istanbul kaufen konnte und sich nun dort in Erwartung seiner Familie auf den Ausklang seiner Lebensjahre freut.

Hüseyin ist bereits dabei, sich die schönen Stunden mit seinen Kindern und seiner geliebten Ehefrau im geistigen Auge zurecht zu legen – als er plötzlich ein furchterregendes Geschöpf erhascht.

Nur für einen Moment spürt Hüseyin den Dschinn in seiner Gegenwart – und schon hat er seinen letzten Atemzug auf dieser Erde genommen.

Eilig machen sich seine Ehefrau und vier Kinder auf den Weg aus Deutschland nach Istanbul – denn der Brauch besagt eine Beerdigung am Folgetag.


Warum schaffen es jedoch nur einige der Geschwister zur Beerdigung? Wer sollte eigentlich noch vor Ort sein – und wer wird zum Ende der Handlung immer noch vermisst?

Was waren Hüseyins letzte Worte und warum kann nur eine Person sie richtig deuten?


All dies wird nach und nach offenbart, denn der Roman ist nach Person in Kapiteln geteilt und befasst sich in einem sehr gut gehaltenen Tempo mit der Individuell- und Gesamtbagage der in Einzelteile zerfallenen Familie.

Als Hüseyins Witwe und ihre vier Kinder sich zur Beerdigung beisammen finden, werden nach und nach ihre Perspektiven und Positionen zu den Eltern, zum Lebenstraum des Vaters und zu den eigenen Zielen ausgeführt – die in großen Teilen nichts mit ihrer Familie zu tun haben.


[…] du spürst kalte Schweißperlen in deinem Nacken,
aber du musst dich nicht fürchten, Hüseyin,
dieser Schatten, das bin nur ich.“(20)


So weitet Aydemir ihr Informationsnetz langsam und immer weiter zurückblickend aus auf Hüseyins Jugend, sein Familienhaus, die ersten Ehejahre und mit seiner Frau Emine geteilte tiefe Traumata, die nur dank der Liebe zu ihren Kindern überwunden werden konnten.


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Es entpuppen sich aufgrund der Kreuzungen in den separat erzählten Kapiteln immer mehr Diskrepanzen, Divergenzen und emotionale Spannungsfelder, die zum Moment der Zusammenkunft der teils jahrelang getrennten Familie in einen großen Konfliktkessel zusammenfließen.

Es wird Abschied von verlorenen Familienmitgliedern genommen, nach und nach werden Vergangenheitssünden und Schuldfragen bearbeitet – und so manch ein dunkles Geheimnis kommt in Hüseyins Wohnung zu Licht, nachdem er diese selbst schon längst verlassen hat.


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Die Vielfalt der Figuren zeichnet Aydemirs stilistisches Können aus: die Geschwister sind vom Alter her zum Teil eine gesamte Generation voneinander entfernt, sodass die Kluft zwischen progressiveren und traditionalistischen Ideologien oder Vorstellungen von Begriffen wie Familie und Heimat schnell sichtbar werden.

Diese multifacettierte Kombination von männlichen und weiblichen, jüngeren und älteren Figuren, deren je eine authentische Erzählstimme genehmigt wird, webt Aydemir gekonnt ineinander – sodass Aha-Momente im gesamten Verlauf des Romans auftreten, sobald eine Geschichte um eine weitere bereichert wird.

Bis zu den finalen Seiten des Romans.


Mit fünfzehn muss man doch wissen was man ist,
Ümit kann doch jetzt nicht einfach hingehen und fragen,
Anne, sind wir Kurden?
Das ist doch absurd und peinlich.(31)


Eine weitere Facette der Erzählung befasst sich mit dem kulturellen Erbe der Familie und der daraus resultierenden emotionalen Zerstückelung: den Kindern wird jeglicher Stolz oder sogar Kenntnis über ihre Herkunft genommen, verboten und verschwiegen. Auch diesen Aspekt führt Aydemir im Laufe der einzelnen Kapiteln in weiteren Nuancen aus.

Fast wie am Rande dieser emotional bereits unglaublich komplexen Geschichte, in die bereits so viele faszinierende Facetten der Familiengeschichte eingepackt worden sind, treten diverse Arten der Ausländerfeindlichkeit, mit der die Eltern selbst und die Kinder einzeln und gemeinsam konfrontiert werden – sowohl die Realisierung ihrer eigenen Machtlosigkeit als auch die Scham des Vaters über seine fehlende Autorität innerhalb des Landes, deren Sprache er selbst nicht spricht, sind herzzerreißend.


Und bloß, weil du deine Bergziegensprache
verlernt hast, macht dich das nicht weniger
zur Ziege, Sevda. Merk dir das.(101)


Der einzige Aspekt dieses Romans, der für meinen Geschmack zu kurz kam, waren die Dschinns selbst. Ja, es ist ein Moment starker Schnappatmung, als sich herausstellt, wer im ersten Kapitel die eigentliche Erzählerstimme besitzt – die schiere Furcht und das Unbehagen, welches Hüseyins unsichtbarer Gefährte auslöst, sind mächtig.

Doch ist es, obwohl einerseits plausibel, dass das ominöse „du“ erst zu einer bestimmten Stelle im Buch zurückkehrt, dennoch in anderen Kapiteln ein auffallend mühsam eingearbeitetes Element.

Auch ohne die Wiederkehr der düsteren Begleiter wäre Aydemirs Roman ein starkes und absolut empfehlenswertes Buch geblieben. Denn die Schatten ihrer Figuren türmen immer und überall hinter ihnen.


„Dschinns“ ist ein meistervoll komponierter multiperspektivischer Gesellschafts- und Familienroman über Heimat und Vergangenheit, Schuld und Sühne, Liebe und Vergebung – und tiefste innere Dunkelheiten.

Für emotionale Komplexitäten, psychologisch gekonnte Familienportraits und kulturhistorische Brennpunkte liebende Lesende, die beispielsweise Romane von Dilek Güngör, Saša Stanišić oder Deniz Ohde genossen haben, wird „Dschinns“ ein ganz besonderer Genuss sein.

Auch allen anderen ist er mit Nachdruck zu empfehlen.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Dschinns
Autor:in: Fatma Aydemir

368 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.02.2022
Verlag: Hanser
ISBN: ISBN : 978-3-446-26914-9

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