Literarische Abenteuer: „Klasse und Kampf“

Im Sammelband „Klasse und Kampf“ teilen vierzehn Autor:innen ihre Erinnerungen an den Existenzkampf ihrer Jugend und den Traum vom Aufstieg, Gedanken über strukturelle Diskriminierung und systemkritische Meinungen zum gesellschaftlichen Status quo.

Sharon Dodua Otoo, Bov Bjerg und Lucy Fricke sind nur einige von den Erzähler:innen, die mit ihren Geschichten sehr persönliche Seiten von sich an die anonyme Öffentlichkeit preisgeben. Bewundernswert, und zum Teil unglaublich verstörend – denn es entspricht weiterhin den Tatsachen, was diese Geschichten über Diskriminierung und Klassenunterschiede preisgeben.


© Ullstein Buchverlage

Eine Fülle kleiner Fragmente aus diversen Stadien eines Menschenlebens finden sich in diesem Sammelband in unterschiedlichsten Formen und Gestaltungen. Die großen, alle Essays und Erzählungen durchdringenden Stichpunkte: Wut. Angst. Scham. Enttäuschung. Und so viel mehr.

Es sind Kindheitserinnerungen aus winzigen Wohnungen mit kleinen Fenstern und vollen Bücherregalen. Schulausflüge, die eine zusätzliche Doppelschicht bedeuteten. Abgetragene Kleidung. Aldi-Marken. Erfahrungen mit Schulkamerad:innen aus „besseren“ Häusern. Grenzen. Freiheiten. Ab und zu Selbstvergessenheit.

Die Widersprüchlichkeiten zwischen dem Wert eines Berufs und eines Studiums. Die unterschiedlichen Wertvorstellungen in Ost- und Westdeutschland.

Die sich stark unterscheidende soziale Position gewisser Berufe – diesen Vorstellungen entsprechend. Der wandelnde Selbstwert von Individuen, die den „Aufstieg“ anstreben – und Erfolg haben. Und der immer haftende Chip auf der Schulter.


Das Schlimmste war nicht der Ekel, das Schlimmste war die Angst, dass alles so bleiben würde, wie es in diesem Moment war.1


Bereits die Verletzlichkeit des sich Preisgebens erzeugt ein hohes Maß an emotionaler Resonanz beim Lesen der Erzählungen. Die Autor:innen haben den Mut, sich als zeitgenössisch gefeierte Individuen zurück in die stinkenden, schmutzigen, strapazierenden Umstände ihrer ersten Jobs zu platzieren und weder ihr Publikum noch sich selbst vergessen zu lassen, wo sie herkommen. Es zeugt von Stärke und dient als Vorbild, um ungemütliche Diskussionen über soziale Ungleichheit und die Gründe solcher Umstände weiterzuführen.

Über die persönliche Ebene hinaus wird einiges an Struktur-, System- und Sozialkritik angesprochen: Schwachstellen des Sozialsystems für alleinerziehende Mütter, die Illusion des finanziellen Erfolgs anhand allgemeiner Sichtbarkeit als Künstler:in, die Ausgrenzung von Kindern von bestimmten Bildungswegen und Entwicklungsmöglichkeiten – wegen ihres (oft fälschlich) auf Migrationshintergrund deutenden Aussehens.


Wir waren reich an Bildung und arm an Einkommen und gesellschaftlicher Anerkennung.“2


Als Figuren des öffentlichen Lebens diskutieren die Autor:innen mit Freimut über ihre Ansichten zur Ungleichheit, der Kluft zwischen den wohlhabenden 10% und den diversen Konstrukten innerhalb der restlichen 90% – ebenso wie über die eigentlich Definition von Kapital, den Wert von Bildung sowie den Unterschied zwischen „erwerbslos“ und arbeitslos“.


„Als freischaffende, preisgekrönte Autorin verfüge ich über mehr kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, als meine Eltern je hatten.
Ökonomisch gesehen geht es mir allerdings eindeutig schlechter als ihnen.3


Es ist schließlich tröstend zu lesen, dass die meisten herausragenden Individuen sich weiterhin in Zwischenwelten befinden – insofern man sich im weitesten Sinne mit den obigen Zitaten identifizieren kann.

Die Auswahl der Sprechenden ist für eine umfassende Beschäftigung mit den Themen des Buches ebenso sehr gut gelungen. Sicherlich wird nicht jeder Beitrag bei jedem Leser ankommen – doch ist dies meines Erachtens auch nicht das erste Ziel eines Sammelbandes, denn die individuellen Highlights werden umso tiefer einsinken.

Wer sich bei systemkritischen Themen unwohl oder gar nicht angesprochen fühlt, dem ist der Sammelband umso dringender zu empfehlen – denn „Klasse und Kampf“ bespricht ausschließlich akute gesellschaftliche Probleme, die im täglichen Gedankengut nicht fehlen dürfen.

Kennst Du den Sammelband bereits? Liest Du generell gerne Essays und Artikel von Deinen Lieblingsautoren?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!

Hier geht’s zur Leseprobe.



1 – S, 25, Lucy Fricke: Fischfabrik.
2 – S. 52. Francis Seeck: Kohlenkeller.
3 – S. 87, Sharon Dodua Otoo: Klassensprecher.


Bibliografie:

Titel: Klasse und Kampf
Hrsg.: Christian Baron, Maria Barankow
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 29.03.2021
Verlag: Ullstein
ISBN: 9783546100250

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Weitere Leseempfehlungen:

Zitateverzehr, 3: Franz Kafka
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