Apache Subversion. Martina Clavadetscher: „Die Erfindung des Ungehorsams“

Schweizer Autorin und Dramatikerin Martina Clavadetscher hat in ihrem Heimatland zunächst mit Erzählungen und Dramastücken für Begeisterung gesorgt. Für beide ihrer Romane war die Autorin für den Schweizer Buchpreis nominiert und erhielt diesen nun für „Die Erfindung des Ungehorsams„.

Was hebt diesen Roman über Weiblichkeit und künstliche Intelligenz von anderen seinesgleichen ab – und lohnt sich die Lektüre?


© Unionsverlag

Martina Clavadetschers neuer Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ handelt vor allem von Individuen, die sich entweder aufgrund ihrer intellektuellen Individualität, ihrem Hang zur Subversion – oder einer Kombination von beiden Eigenschaften – von der Masse unterscheiden.

Diese Individuen sind nicht immer Menschen.

Die Handlung steigt bei Iris ein, einer sich auffallend mechanisch und emotional verschlossen verhaltenden analytischen jungen Frau, die in Manhattan wohnt und zu Abendgesellschaften gerne auf einer geradezu algorithmischen Logik basierende Geschichten erzählt…


In ihrer gewagtesten Erzählung schildert Iris das Leben ihrer „Halbschwester“ Ling, die in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas arbeitet.

Wiederum aus dieser zweiten Erzählebene schöpfend wird eine weitere Protagonistin, Ada, vorgestellt – die in einer vollständig anderen Zeit und Realität existiert.

Alle drei Frauen sind auf der Suche nach Antworten: über ihre Vergangenheit, über die Geheimnisse der Wissenschaft – über ihre eigene Seele.

Insofern sie eine besitzen…


Da ist also ein Fehler in mir, […].“
Es ist dieser freie Geist, der sie bewohnt.
[…] der Mädchenkörper sei bloß eine Maschine, die von einem zweiten,

fremden Denken bedient wird.(171)


Bereits zum Einstig beeindruckt die Kombination von stilistischer und visueller Gestaltung im Text: fast der gesamte Roman wurde als Prosagedicht mit Zeilenbrüchen geschrieben. Er liest sich wie eine Mischung aus Gesang, Lyrik und Geflüster.

Inhaltlich wohnen der Erzählwelt wunderbar kakofonische Diskrepanzen inne – die Erzählerinnenstimmen scheinen in diversen Momenten einen geradezu tröstenden Grundton anzunehmen, an anderen Stellen bahnt sich fortlaufend Unmut an.


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Die Protagonistinnen sind sanftmütig, transparent, reflexiv, teils gar unterwürfig – dennoch wohnt allen dreien eine Andersartigkeit inne, die abschreckend wirkt.

Dass zumindest eine der Protagonistinnen tatsächlich eine Frau aus Fleisch und Blut ist, steht außer Zweifel. Die anderen jedoch…


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Der Lesestrom dieses Romans ist so still und sanft wie der Stil der Autorin, allerdings sollte man stets auf der Hut sein, denn makabre Wendungen lauern vielerorts.

An keiner Stelle im Text hinterlässt der rhetorische Überfluss dieser Eher-Lyrik-als-Prosa allerdings einen konstruierten oder künstlichen Eindruck.


Niemand sieht es den Frauen an, ob sie Kanarienvögel sind, ihr Äußeres gleicht dem Äußeren aller Töchter aus der Provinz, die Haare dunkel, die Wangen blass.“(52)


In gleicher Weise einzigartig sind die gekonnten Verknüpfungen zwischen den semantischen Feldern ‚Mensch‘ und ‚Maschine‘.

Die Autorin erforscht das Maschinelle an ihren Figuren: die Frauen bringen menschliche Schwierigkeiten mit alltäglicher Empathie zutage; haben eine ungewöhnliche Faszination mit Zahlen, Systemen und Algorithmen. Sie haben entweder eine am Unheimlichen grenzende Impulskontrolle – oder werden vollständig von ihren Instinkten beherrscht.


Diese Eigenschaften lässt Martina Clavadetscher einerseits in Formen künstlicher Intelligenz einfließen, kontrastiert die realistischen und hyperrealistischen Fähigkeiten von Menschenpuppen oder Roboter:innen – und stellt das Element des Andersartigen in der weiblichen Psyche somit neben ein anderes Unbehagen.

Schließlich eröffnet sich somit die wichtigste Interpretationsebene des Romans: die kollektive Erkenntnis um den nahenden absoluten Kontrollverlust über künstliche Intelligenz, verknüpft mit der historischen Bändigung der als ungehorsam geltenden intelligenten, subversiven – selbstständigen – Frau.


„Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine wahrhaftig erhellende – und beängstigende – Lektüre, ein fantastischer Roman und eine uneingeschränkte Leseempfehlung meinerseits.

Welche dystopischen und futuristischen Romane oder Bücher zum Thema künstliche Intelligenz hast Du in letzter Zeit gelesen?

Ich freue mich auf Deine Meinung und Ergänzungen zum Thema.

Hier geht’s zur Leseprobe. (Link zur Verlagsseite)

Bibliografie:

Titel: Die Erfindung des Ungehorsams
Autor:in: Martina Clavadetscher
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 15.02.2021
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00565-5

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