Opium, Embryos und kopflose Leichen. Sofi Oksanen: „Hundepark“

Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen ist vor allem für ihren dritten Roman „Fegefeuer“ bekannt, der in über vierzig Ländern erschienen ist. Die Autorin wird sowohl mit Margaret Atwood als auch mit Charles Dickens verglichen. Ihre Romane spielen allerdings in Estland, Finnland – und nun auch in der Ukraine.

Ist die kompositorische Komplexität des neuen Romans „Hundepark“ jedoch als geglückt oder übersättigt einzuschätzen?


© KiWi

Sofi Oksanen wird seit der Veröffentlichung ihres dritten Romans „Fegefeuer“ (Puhdistus, 2008) nicht nur in Finnland und Estland, sondern auch auf der deutschsprachigen Literaturlandschaft zu den wichtigsten Vertreterinnen der europäischen Gegenwartsliteratur gezählt.

Die gehaltvollen Romane der Autorin handeln von diversen Momenten aus der sowjetischen Geschichte, soziopolitischen Entwicklungen in Estland und Finnland – im Vordergrund ihrer Bücher steht jedoch vor allem die Unterdrückung und Misshandlung, die den weiblichen Teilen dieser Gesellschaften und Staaten zuteilwird.

Beispielsweise in „Fegefeuer“ wird die komplexe Beziehung zwischen einer alten Bäuerin und einem jungen Mädchen auf dem Hintergrund der Umbruchszeiten im sowjetischen Estland auf eine mitreißende Art und Weise durchleuchtet.

Gewiss hatte ich zu Beginn der Lesereise mit „Hundepark“ eine entsprechende Erwartungshaltung im Gepäck.

Kann der neue Roman über die Machtverhältnisse der Fruchtbarkeitsindustrie in der Ukraine mit Oksanens bekanntestem Werk mithalten – oder sind Vergleiche an dieser Stelle unzulänglich?

Direkt hervorzuheben und zu loben gilt es die stilistische Umsetzung des Romans – und somit auch die Leistung von Oksanens langjähriger Übersetzerin Angela Plöger.

Bereits der erste Abschnitt der Geschichte, die im Jahr 2016 in Helsinki spielt, deutet Spannung, emotionale Komplexität und anstehenden Nervenkitzel an:


Vielleicht wäre alles anders gekommen,
wenn ich sie gleich erkannt hätte und so klug gewesen wäre,
das Weite zu suchen..“(5)


Auch in diesem Roman wird eine komplexe Gegenüberstellung von zwei Protagonistinnen entworfen – deren Dynamik sich in diesem Fall frei zwischen Mordlust und Geschwisterliebe bewegt.

An diesem Nachmittag, an dem die Protagonistin Olenka am liebsten im Hundepark auf der Bank sitzend in Ruhe ihr Buch gelesen hätte, holt ihre Vergangenheit sie ein. Die sich – aus der Sicht der Außenstehenden zufällig – neben sie gesellende junge Frau ist ihr nämlich alles andere als fremd…


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Oksanen wählt in „Hundepark“ auch kompositorisch eine ähnliche Route, wie sie es bereits in „Fegefeuer“ (und „Als die Tauben verschwanden“) getan hat; die charakteristische nichtlineare Komposition wird in diesem Roman jedoch um einiges verdichtet.

Während Oksanens frühere Werke sich meistens auf zwei wechselnden, chronologisch kohärenten Erzählebenen fortbewegten, dringt „Hundepark“ zwar nach und nach in die Vergangenheit der Protagonistin vor, läuft auf den anderen Zeitebenen allerdings ebenso fort.


Die Handlung beginnt zeitlich in der Ukraine in den 1990er Jahren und mündet im heutigen Finnland. Der Roman löst zwar mit jedem neuen Zeitsprung bereits geknüpfte Spannungsknoten, jedoch beinhalten folgende Kapitel immer entsetzlichere Geheimnisse bezüglich der Vergangenheit von Olenka und Daria, der unerklärlichen Tode gefährlicher und wohlhabender Geschäftsmänner – und der beruflichen Beziehungen ihrer Väter.


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Eine weniger erfahrene Autorin würde ihre Leserschaft mit solchen Spielchen erschöpfen – Oksanen gelingt jedoch das Gegenteil: in Kombination mit der inhaltlich faszinierenden (wenngleich verstörenden) Thematik und spannender Gesamthandlung sorgen die wiederholten Offenbarungen immer wieder für neue Wellen der Schnappatmung.

Im Kern erforscht und durchleuchtet der Roman die weibliche Kommerzialisierung in Osteuropa, genauer die Geschäfte mit ungeborenen Kindern, der Fruchtbarkeit von jungen Mädchen, der Illusion des mütterlichen Glücks und dem Warenwert eines weiblichen Körpers.


Oksanen zeigt in dieser fesselnden Geschichte, wie junge Mädchen von Vermittlungsagenturen für kinderlose Familien mit Versprechen von einem besseren Leben – für sich selbst und ihre Familien – physisch und psychisch ausgebeutet werden.

Den wohlhabenden Empfängerfamilien wiederum werden anderer Art Lügengeschichten vorgeführt: die Spenderinnen werden nicht nur als ästhetisch ansprechende Ware dargestellt, sondern wird ein jeweils perfekt zugeschnittener Lebenslauf gekonnt konstruiert.


Die Handlung befasst sich bezüglich der Agenturgeschichte vorrangig mit Olenkas Weg von Spenderin zur Koordinatorin. Nach einigen Erfolgen in der neuen Position entscheidet Olenka sich, als Mentorin für die junge, pfiffige Daria zu fungieren, die aus demselben Ort stammt wie sie – und der sie eine Wiedergutmachung unerörterter Vergangenheitssünden schuldet, die sich im Laufe der Handlung noch entpuppen sollen.

Wenn da nur nicht noch Roman wäre, in den Olenka sich – mutmaßlich – verliebt.

Die Lücken und Diskrepanzen in ihrem eigenen, in Wahrheit wesentlich weniger perfekten Lebenslauf sorgen für erhebliche Probleme auf dem Weg zum großen Glück und Karriereerfolg.


Ich war ein Volltrottel. […] Und es würde gar keine Hochzeit geben,
wenn ich es nicht schaffte, mein Kartenhaus aufrechtzuerhalten.“(364)


Vielschichtig und faszinierend skizziert sind sowohl die Beziehungen zwischen den Empfängerfamilien und der Agentur als auch die professionelle und private Dynamik zwischen Olenka, Daria und der Chefin.

Ebenso komplex gestaltet sind die familiären Szenen und Olenkas schwierige Beziehung zu ihren Eltern. Insbesondere zu ihrer Mutter, deren puristisch-moralische (und für das wirtschaftliche Milieu vollständig unrealistische) Prinzipien mit Olenkas als moralisch ambivalent einzustufenden Überlebenskünsten kollidieren.


Insofern ist es ebenso ungewöhnlich, im Laufe der Lektüre festzustellen, wie die intrinsische Transparenz der Protagonistin und ihre Authentizität der Leserschaft gegenüber sie zeitgleich sympathischer und unsympathischer macht.

Der Kampf zwischen zwei Olenkas – einerseits verletzliche Frau mit intensiven, überhandnehmenden Emotionen, andererseits kalkulierende Überlebenskünstlerin und vollständige Pragmatikerin – wird von Oksanen auf herausragende Art und Weise dargestellt.


Zu guter Letzt werden diejenigen Lesenden, die sich mit osteuropäischer Zeitgeschichte auskennen, die erwähnten Länder bereist oder andere literarische Erfahrungen mit sowjetischer Geschichte gemacht haben, einiges an kulturellen Kleinigkeiten finden.

Ich bin in Estland aufgewachsen und freute mich über erwähnte Sendungen wie „Nu pogodi“ „Wremja“ und „Voice of America“.

Ebenso verspürte ich während der Lektüre im Gaumen die bekannten und geliebten Geschmäcker von Valio Kefir und Vana Tallinn Likör. Glücklicherweise aber nicht direkt nacheinander. 😉


Hier allerdings sind Unfälle nur Unfälle, und Mohn,
das sind hübsche Blumen in einem Blumenbeet.“(311)


Als einziger Kritikpunkt bleiben zwei detailbezogene Assoziationen zwischen Beginn und Ende der Handlung ein wenig willkürlich in der Luft hängen.

Die Verbindung zwischen dem Coverfoto, dem Titel und der Geschichte wurde zwar hergestellt – doch bleibt es an den Leser:innen, zu interpretieren, ob der Hundepark nun eigentlich eine tiefere Bedeutung besitzt oder die Vergiftung der jungen Mädchen allegorisch mit der Verwandlung der schönen Mohnblüte in eine zerstörerische Droge zusammenhängt.

Was es mit den kopflosen Leichen auf sich hat, verrate ich an dieser Stelle nicht.


Dass bei der Lektüre eines so komplexen Romans allerdings gegebenenfalls ein wenig selbstständige Denkarbeit geleistet werden muss, kommt mir persönlich nur entgegen, da ich Sofi Oksanen nur als anspruchsvolle Autorin kenne und bewundere.

Für diejenigen Leser:innen, die an osteuropäischer Geschichte und Romanen mit komplexen soziokulturellen Nuancen, vielschichtigen Figurendynamiken, düsteren Machenschaften und stilistischen Meisterleistungen interessiert sind, spreche ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung aus – und empfehle ebenso uneingeschränkt die anderen oben erwähnten Werke der Autorin.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Eine ausführliche, spoilerfreie Videobesprechung zu „Hundepark“
findest Du auf meinem YouTube-Kanal.

Bibliografie:

Titel: Hundepark
Autor:in: Sofi Oksanen
Übs.:in: Angela Plöger

480 Seiten | 23,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 13.01.2022
Verlag: KiWi
ISBN: 978-3-462-00011-5

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1 Antwort

  1. Hallo,

    danke, dass du mir Bescheid gesagt hast!
    Zumindest habe ich nun eine Vorstellung darüber, warum das für Frauen in Osteuropa so schlimm ist. Ganz anders als eine Spende in Dänemark oder den Niederlanden.
    Es erschrickt mich schon immer wieder, wenn mir bewusst wird, wie sehr die Länder sich in manchen Sachen unterscheiden.
    Das Buch Fegefeuer habe ich sogar, allerdings noch nicht gelesen.

    Liebe Grüße
    Petrissa

    Gefällt 1 Person

    • Gerne, liebe Petrissa! Ja, die allgemeine Situation in Osteuropa – mittlerweile eben auch gut verglichen in unterschiedlichen Ländern und Zeiten – liest sich auch kombinatorisch sehr gut aus Oksanens Büchern heraus. Glücklicherweise ist es zum Beispiel in Estland heutzutage auch eher mit dem Skandinavischen zu vergleichen, in den östlicheren Ländern (wie eben der Ukraine) eine ganz andere Angelegenheit.
      Ich kann dir beide Bücher nur ans Herz legen, wobei „Fegefeuer“ schwerere Kost ist und „Hundepark“, obwohl das Buch sich mit dem Thema zulänglich verfasst, auch eine sehr spannende Lektüre ist und zudem noch einen Krimi-Flair in sich birgt.
      Liebe Grüße zurück 🙂

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