Brustmilch und Gewaltfantasien. Avni Doshi: „Bitterer Zucker“

US-amerikanische Autorin Avni Doshi schreibt in ihrem Debütroman über Konflikte in den ambivalenten Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern und erforscht respektive Kehrseiten aus beiden Perspektiven.

Welche Tabus bricht „Bitterer Zucker“ – und warum repräsentiert Doshis Protagonistin eine wichtige Position für aktuelle literarische Diskurse?


© btb

Avni Doshi nimmt an keiner Stelle ein Blatt vor den Mund, wenn es um das zerstörerische Potential von Mutter-und-Tochter-Dynamiken geht.

Dieser Anspruch bezieht sich im Debütroman „Bitterer Zucker“ auf beide Parteien.

Der Roman behandelt vorrangig die Konflikte zwischen Mutter und Tochter und konfrontiert ihre Perspektiven auf eine polarisierende Art und Weise.

Die Handlung bewegt sich mit zeitlichen Sprüngen und Wechseln.

Sie beginnt am Endpunkt der Alzheimer-Diagnose von Antaras Mutter Tara, und breitet sich stückeweise in ihre Kindheit und Jugend aus.

Die Kapitel sind mit Jahreszahlen versehen, die biografische Stationen indizieren – nach dem respektiven Rückblick kommt die Erzählerin jedoch immer in ihre Gegenwart zurück.


Sowohl von Antaras Kindheit als auch ihrer Jugend haben beide Protagonistinnen sehr unterschiedliche Erinnerungen, in denen respektive die jeweilige Figur unter dem Verhalten und dem Egoismus der anderen zu leiden hatte.

Bereits der erste Satz des Romans läutet Antaras Position mehr als aussagekräftig ein:


Zu behaupten, ich hätte mich niemals über das Leid
meiner Mutter gefreut, wäre eine glatte Lüge.“(9)


Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern werden des Öfteren idealisiert und mythologisiert. Doshi geht diesen Mythen aus beiden Perspektiven auf den Grund – und bricht dabei zahlreiche literarische Tabus.


Das Fenster ist offen, und ein kleiner Körper fällt schnell, lautlos.
Bis zum Morgen kann er schon tot sein.“(310)


Besonders interessant wird die Geschichte nach der zusätzlichen Vervielfältigung: Antara wird selbst Mutter und sieht sich plötzlich der Herausforderung gestellt, ihrem Kind die Tortur, die sie im zartesten Alter erlitten hat, zu ersparen.

Ob es am schlauesten wäre, das Kind einfach direkt aus der Welt zu schaffen? Sind solche Gefühle durch und durch pathologisch – oder valide?


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Doshi erörtert Fragen wie: Welche Gefühle darf eine Mutter überhaupt haben? Was ist mit dem gesamten Emotionsspektrum jenseits Zärtlichkeit und Liebe?

Und inwiefern sind Hass und Rebellion einer Tochter gerechtfertigt? Ist eine Versöhnung möglich, wenn zwei sich ihr Leben lang nur verraten und verletzt haben?


Ebenso wird über den physischen Kampf einer Frau zwischen ihren sozialen Rollen als Geliebte, Ehefrau und Mutter sinniert. Zu oft scheint eine Entscheidung unvermeidbar zu sein; der Versuch, Harmonie der Facetten zu erzielen, zum ewigen gesellschaftlichen Gefecht dazuzugehören.

Antaras physisches Selbstbild, ihre Betrachtung des eigenen pubertierenden Körpers als zu groß, zu beleibt; der Vergleich mit dem grazilen Mutterkörper sowie die Validierung, die Suche nach Erfüllung und Zuneigung über Sexualität bilden durch den Roman hinweg einen weiteren faszinierenden Themenkomplex.


Ich erinnere jetzt, dass es auch noch
andere Verwendungen für meinen Körper gab,
als mein Bauch noch nicht gebrandmarkt war,
meine Brustwarzen noch nicht verbissen waren.“(337)


Zeitgleich verarbeitet die Autorin die mit der Pflege einer Alzheimer-Patientin verbundenen komplexen Gefühle – erleben musste sie diese anhand ihrer eigenen Großmutter. Die Parallelen in der Verzerrung von Erinnerungen, in der Unsicherheit der eigenen Vergangenheitswahrnehmung und der daran gebundenen emotionalen Lasten, sind auch im Schaffen der Protagonistin klar sichtbar.


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Antara ist Künstlerin und realisiert seit Jahren ein Projekt, in welchem sie täglich dasselbe Gesicht zeichnet – jedoch nicht von einem Foto, sondern immer anhand der Zeichnung vom Vortag ausgehend.


Erst in der zweiten Hälfte des Romans, als sich herausstellt, wer auf dem Foto abgebildet ist und warum Antara dieses Foto überhaupt besitzt, vervollständigt die Geschichte sich um eine wesentliche Komponente, die sowohl die Dynamik des Kampfes zwischen Mutter und Tochter als auch die Farbe der Wahrheit vollständig ändert.


Sie werden niemals wissen, ob die Erinnerung echt oder ausgedacht ist.
Ihre Mutter ist nicht mehr glaubwürdig.“(205)


Dass die Alzheimer-Komponente nach eigenen Worten der Autorin auf halbem Wege des Romanschreibens eingefügt wurde, (Euronews) macht sich inhaltlich und kompositorisch bemerkbar.

Es ist des Öfteren so, als würde man zwei unterschiedliche Geschichten lesen, die zufällig aufeinander treffen.


Mittig im Roman findet ein Umbruch statt, fast ein Wechsel in eine Erzählwelt in anderen Farben. Die Gemütslage, die Positionen der Protagonistin verrutschen.

War das allerdings Absicht?

Soll der Bruch indizieren, dass die Protagonistin nicht mehr erkennbar ist, da ihre Realitätswahrnehmung durch ihre Pubertät vollends auf den Kopf gestellt wurde?


Doshis kompositorische Entscheidungen bleiben interpretationsoffen.

Antara und Tara werden zum Ende des Romans beide als zerrissene und faszinierende Figuren enttarnt. Ihre Dynamik streckt sich schlussendlich zu einer enormen Themenvielfalt aus.

Dennoch erscheint es kompositorisch als bedenklich, Leser:innen bis zur Mitte der Geschichte im Dunkeln tappen zu lassen, bis sich das Herz der Handlung erst auf Seite 149 langsam zu öffnen beginnt.

Für die ungeduldigeren Individuen unter uns könnte dies zum Abbruch führen.

Ich meinerseits bin froh, die Reise bis zum Ende mitgemacht zu haben, denn sprachlich ist „Bitterer Zucker“ ein Erlebnis voller Lichtblicke.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: bitterer zucker
Autor:in: Avni Doshi
Übs.:in: Frauke Brodd

352 Seiten | 12,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 09.11.2021
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-77161-5

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