Nostalgische Nachtmahr. K-Ming Chang: „Bestiarium“

Taiwanisch-amerikanische Schriftstellerin K-Ming Chang stand mit ihrem ersten Roman auf der Longlist für den PEN/ Faulkner Award. Die drei Generationen übergreifende Geschichte verwebt die tiefen psychologischen Traumata einer Migrantenfamilie mit fantastischen Visionen aus taiwanischer Mythologie.

Inwiefern wird das Buch ihrem Titel gerecht – und warum ist es eine geradezu unmögliche Lektüre?


© Hanser Berlin

Chang erzählt in „Bestiarium“ (Bestiary, 2020 – in der Originalausgabe übrigens mit einem großartigen, die groteske Erzählwelt akkurat darstellendem Cover) vorrangig eine schauerliche Familiengeschichte voller Gewalt, Terror, Unterdrückung und körperlicher Blöße.

Die Migration der Familie aus Taiwan in die vereinigten Staaten, der Kampf um die wirtschaftliche und soziale Existenz, die harte Arbeit, die drei Generationen für ihr Überleben leisten mussten – dies sind nur einige wenige Aspekte, die aus diesem Roman so schwere Kost werden lassen.

Basierend auf von Familienmitgliedern erzählten Erinnerungen, Mythen und Mischformen gestaltet sich die Handlung. Die Familie sucht gerade kollektiv nach Gold im eigenen Garten, als die gegrabenen Erdlöcher plötzlich zum Leben erwachen.

In ihnen sitzen die Stimmen der Geister der Ahnen, die nach den Lebenden greifen und ihnen Botschaften zuflüstern.

Doch nicht nur Löcher in der Erde leben in diesem Roman unverhofft auf: alles in dieser Erzählwelt hat einen mythischen, vitalen Boden.

So beginnt die jüngste Tochter der drei Generationen (die Figuren werden nur mit ihren jeweiligen Familienmitgliederrollen bezeichnet und bleiben namenlos), sich nach und nach in den Tigergott Hu Gu Po zu verwandeln; während ihr Bruder an einer anderen Stelle mit ihrem Vater in Form eines Drachens vom Dach eines Hochhauses davonfliegt.


Als der Kürbis aufplatzte, weinten sie vielleicht nicht, um die Geburt zu feiern, sondern aus Trauer um das verlorene Gold. […]
Eine Tochter ist eine Schuld, die wir uns leisten können.“(34)


Weitere Themen des Romans sind Innenwelten von Frauen, die aus ihrer aufgezwungenen Mutterrolle eher traumatisiert werden als Freude erfahren; der Zyklus familiärer Gewalt, der sich über Generationen verteilt; die misslungene Kommunikation zwischen Eltern und Kindern und vieles mehr – „Bestiarium“ thematisiert zahlreiche Komplexitäten einer toxischen Familienstruktur und -kultur am Beispiel Taiwans, jedoch einige fernöstliche Länder betreffend.


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Dass die Tochter der jüngsten Generation queer ist, scheint eher nebensächlich zu bleiben: eher ist ihre Identität als ewige Fremde die hauptsächliche Schmerzensquelle. Dennoch ist auch die Beziehung zu ihrer Freundin hervorzuheben – die auf eine ebenso mit Körperflüssigkeiten gefüllte Erzählart gezeigt wird wie die restlichen Episoden im Buch.

Blut, Urin und Spucke sind nämlich im selben Maße als Protagonisten dieses Romans zu bezeichnen als die drei Frauen, von denen die Geschichte geschildert wird.


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Führt man sich vor Augen, dass ein Bestiarium aus der mittelalterlichen Tradition stammt und für allegorische Tierdichtungen steht, in denen fantastische Fabelwesen vorkommen, verschafft man sich bereits den ersten Zugang zum Buch.

Ihren Anspruch hat Chang in dieser Hinsicht mehr als erfüllt: sowohl der düstere Ton und der Stil des Romans haben einen mittelalterlichen und bestialischen Charakter; ebenso kommen zahlreiche Fabelwesen in den fantastischen Erzählungen der drei Protagonistinnen vor.

Ohne diese Vorkenntnis ist Changs Debüt zunächst unverständlich, erscheint willkürlich zusammengewürfelt, grenzt an obszön.


Der Roman ist geladen mit Symbolen, Fantastik, Mythologie und Pathologie – dennoch wird jenseits dieser Zauberwelt eine unglaublich düstere Realität dargestellt. Die starke Körpergebundenheit weist auf eine Art der Therapie durch Entblößung hin, die ebenso, wenn nicht schwer zu verstehen, dann sicherlich schwer zu lesen ist.

An sich ist die hohe Themenkomplexität beeindruckend, doch hat Chang keinen roten Faden hinterlassen, an dem man sich auf der Suche nach kohärenten Elementen orientieren kann. Es fehlt der winzige Lichtblick in der Gesamtfinsternis dieses existenzialistischen Albtraums.

Wer würde sich einer solchen emotionalen Herausforderung willentlich stellen wollen?


Auf der Matratze, die wir uns teilten, drehte sich mein Bruder um und sah, wie ich meinen Schwanz packte und ihn mit beiden Händen zu würgen versuchte, als wäre er ein Hals. Er musste so heftig lachen, dass sein letzter Milchzahn rausflog und den Ventilator von der Decke schoss.“ (59)


Die reine Tatsache, dass die Körper der Protagonistinnen sowohl in den Visionen und Fantasien als auch in den reellen Erinnerungen und Schilderungen immerzu zerstört, verletzt und dem Tode nahegebracht werden, weist auf sehr tiefe Traumata hin. Diese haften am Individuum, an der Familieneinheit und der Kulturhistorie der Figuren.

Das Ausmaß an Traumata zu verdauen ist bereits schwierig. Hinzugefügt werden Changs überaus eklektischer Stil und ihre markante Symbolsprache, die die Lektüre gemeinsam als anstrengend, geradezu überfordernd gestalten.


„Bestiarium“ ist in emotionaler und psychologischer Hinsicht ein Fass ohne Boden; eine düstere Vision; ein verstörendes, toxisches Familienportrait und eine entsetzlich reale Auseinandersetzung mit dem Thema Migration.

Wer sich für surrealistische Kunst interessiert, mit Ava Farmehris fulminantem Debüt gut fuhr oder Autoren wie Lautréamont oder Joris-Karl Huysmans mit Begeisterung liest, könnte hier an ein wertvolles Fundstück geraten.

An Originalität, Intensität und Komplexität fehlt es in Changs Debüt nicht.

Der surrealen Symbolwelt und den schaurigen Inhalten dieses Romans werden jedoch die wenigsten gewachsen sein. Ich rate bei Interesse daher vorab dringend zur Leseprobe.


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Bestiarium
Autor:in: K-Ming Chang
Übs.:in: Stefanie Jacobs
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 27.09.2021
Verlag: Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27102-9

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