Literarische Abenteuer. Ilf und Petrow: „Zwölf Stühle“

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Die russischen Journalisten Ilja Ilf und Jewgeni Petrow arbeiteten in den 1920er Jahren für verschiedene Satireblätter und veröffentlichten gemeinsam zwei Romane sowie verschiedene Erzählungen und Feuilletons.

Der satirisch-kritische Roman „Zwölf Stühle“ genießt in osteuropäischen Ländern weiterhin einen Kultstatus. Was steckt dahinter?


© Luchterhand / Penguin Random House

Ilf und Petrow gehören zu den absoluten Vorzeigeautoren, wenn es um den Bereich russischer Satire geht – obwohl die Formen von Satire sich als roter Faden durch die gesamte literarische Palette des 20. Jahrhunderts ziehen.

Von beispielweise Maxim Gorki in den 1910er und 20er Jahren bis hin zu Wladimir Woinowitsch in den 1960er und 70er Jahren sind Elemente der Satire für zahlreiche russische Literaten maßgebend – um das breite Spektrum wirklich nur ganz grob zu berühren.

Ilf und Petrow arbeiteten gemeinsam als Journalisten und verfassten im Tandem auch den Roman „Das goldene Kalb oder die Jagd nach der Million“ (1931), die Fortsetzung des heute behandelten Buches.

Der Roman „Zwölf Stühle“ (Двенадцать стульев, 1928) besitzt also bereits anhand einer ersten Recherche vor der Lektüre alle erwarteten Züge eines köstlich bissigen Buches, die ein Genießer satirischer Werke sich erhofft.

Bereits der allererste Satz im Roman zieht die Mundwinkel auch sofort nach oben:


In der Kreisstadt N. gab es so viele Frisieranstalten und Büros für Leichenzüge, daß man denken konnte, die Einwohner würden ausschließlich zu dem Zweck geboren, sich rasieren, die Haare schneiden, den Kopf mit Haarwasser erfrischen zu lassen und gleich darauf zu sterben.“(9)


Detailliert und elanvoll startet die makabre Familiengeschichte (zum Widerspruch der Behauptungen des Erzählers) mit einem Todesfall – als die Schwiegermutter des (mutmaßlichen) Helden Ippolit Matwejewitsch Worobjaninow nach (für die Dame und ihren Schwiegersohn gleichermaßen) langer und qualvollen Krankheitsdauer (endlich) stirbt.


Unerwartet erfährt Ippolit bei ihrer letzten Beichte, dass die Alte in einem der zwölf Stühle in ihrem ehemaligen Wohnhaus (das sie aufgrund der Enteignung der Familie durch die Bolschewiki räumen mussten) Juwelen versteckt hatte.

Ähnlich dem Taumel der Ereignisse, als die zahlreichen Bestatter Worobjaninow in der exakten Sekunde des Dahinscheidens seiner ‚wertesten‘ Schwiegermutter wie die Geier einkreisen, werden die wahnwitzigen Geschehnisse im weiteren Verlauf aneinandergereiht. Auf Ippolits abenteuerlichen Weg zum Ziel und zum Reichtum entsteht ein gewaltiges Tohuwabohu an komischen Situationen, Verwechslungen, Maskeraden – und Erkenntnissen über die egoistische, käufliche, heuchlerische, verdorbene menschliche Natur.

Ippolit begegnet dem Gauner Ostap Bender – einem klugen und wortgewandten Dieb, der sich während der Jagd nach den Stühlen/Juwelen stets irgendwo zwischen den Rollen Gefährte, Rivale und Erzfeind befindet. Bender wird im Laufe der Erzählung zum wahren (Anti-)Helden der Geschichte.

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„Zwölf Stühle“ trotzt nur so von Situationskomik und einfallsreichen, lustigen, gelegentlich makabren, ungemütlichen Passagen, die die Geschichte dynamisch gestalten und den Leser durchgehend fesseln.


Das grundlegende Verständnis des Menschen habgierigen, egoistischen Gauners ist übrigens ein klar erkennbares Universalprinzip. Wer hier also „Misogynie“ schreien möchte, möge zunächst die männlichen Figuren vergleichend betrachten.


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Zu viel geschieht in dieser Hetzjagd voller Persönlichkeiten, Kalauer und Raserei, um eine kohärente Inhaltsangabe zu versuchen. Auch Benders zahlreiche Bonmots sind am besten unmittelbar genossen.

Es ist an dieser Stelle lediglich darauf hinzuweisen, dass der Ilf und Petrow Lesende Satire als Genre auch wirklich mögen muss. Wer sich als Leser:in eher zu zwischenmenschlichen Seelenoffenbarungen, Liebesgeschichten, aufrichtigen Helden und Gefühlen hingezogen fühlt, dem ist dieser Roman nicht zu empfehlen.

Die Dichte an Hinweisen, kulturellen Nuancen und Sprachspielchen kann auf Dauer sogar anstrengend werden – daher empfehle ich zunächst, die Leseprobe dieses Romans heranzuziehen. Durchaus wird man hier beispielsweise an Dürrenmatt erinnert – doch verlangt dieser Roman bereits anhand seiner Länge nach einem größeren Investment.

Für diejenigen, die sich auch der zeitgenössisch-kontextuellen Dichte gewachsen fühlen – aktives zurate ziehen der sechzehnseitigen Liste von Anmerkungen zum Ende des Textes ist meines Erachtens essenziell! – bietet „Zwölf Stühle“ eine raffinierte Studie über menschliche Schwächen, die universale, dennoch absurd-komische Gier nach mehr – und die zeitgenössische soziopolitische Situation Russlands.

Man muss sich zeitgleich vor Augen führen, dass Satire in diesem Zeit- und Kulturraum auch für andere Autor:innen die einzig anwendbare Methode war, Wahrheiten an ihre Leserschaft zu bringen.


„Zwölf Stühle“ ist kein schnell gelesener Roman – obwohl er unglaublich lustig ist, merkt man im Laufe der Erzählung recht schnell, dass doch wesentlich mehr hinter der Handlung steckt als zur Schau gestellte universale Habgier, Charakter- und Situationskomik und aneinandergereihte Kalauer.

Der Klassiker ist eine absolute Perle, die sich allerdings nicht jedem Lesenden erschließen wird. Für Einsteiger zur russischen Satire würde ich daher erstmal eine kürzere Variante, beispielsweise Bulgakows Kurzgeschichten empfehlen.


Solange man das oben erläuterte berücksichtigt, können Lesende, die am liebsten zwischen den Zeilen die wahren Botschaften von Texten entdecken, in Ilfs und Petrows Romanen ein Maß an kultureller Reichhaltigkeit ohnegleichen ernten.

Kenner erwartet hier nämlich ein Genuss vom Feinsten.

Welche russischen Autor:innen würdest Du mir noch empfehlen?

Auf Deine Resonanz in den Kommentaren freue ich mich sehr!


Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Zwölf Stühle
Autor:in: Ilja Ilf, Jewgeni Petrow
Übs.:in: Thomas Reschke
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 1.10.2003
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-62067-1

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