Der ukrainische Schriftsteller Walerjan Pidmohylnyj (1901–1937) gilt als Begründer des modernen ukrainischen neorealistischen Romans. Sein Hauptwerk „Die Stadt“ ist ein absoluter Klassiker der ukrainischen Literatur.
Lohnt sich die Neuentdeckung dieses üppigen Schmökers?

Walerjan Pidmohylnyjs Roman „Die Stadt“ (Місто, 1928) gehört einerseits zu den wichtigsten Werken ukrainischer Literatur, wurde andererseits noch nie ins Deutsche übersetzt.
Die ursprüngliche Idee zur aktuellen Neuerscheinung, übersetzt von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald u. Lina Zalitok, entstand im Rahmen eines Seminars zur ukrainischen Avantgarde und ihren Opfern durch den Stalinismus an der Humboldt-Universität Berlin.
Obwohl Pidmohylnyj mit dem Roman direkt nach seinem Erscheinen Erfolg hatte, durfte er nach 1930 kaum noch Werke publizieren, wurde 1934 verhaftet und im Rahmen der Stalinschen Säuberungen im Jahr 1937 zusammen mit zahlreichen Vertreter*innen der ukrainischen Intelligenzia erschossen.
„Die Stadt“ erschien in der Ukraine erst wieder im Jahr 1989 – und wird nun, in den 10er und 20er Jahren des laufenden Jahrhunderts, endlich in diverse Sprachen übersetzt.1
Der von idealistischen Ansätzen geradezu übersprudelnde Stepan reist voller Entschlossenheit in der ukrainischen Metropole Kyjiw an.
Der junge, intelligente, gutaussehende Mann hat zwar vor, sich nach dem Studium auch für sein Heimatdorf einzusetzen, möchte zukünftig jedoch eine tragende Rolle bei der allgemeinen Annäherung von Stadt und Land einnehmen – und vor allem, natürlich, den Sozialismus weiter aufbauen.
Eine Säule der Gemeinde! Ein Held der Nation!
Von Bleibe bis Moral bis Beruf – graduell gestalten sich sämtliche Aspekte von Stepans großen Plänen weitab von seinen Vorstellungen, als er den Vorzügen und dem Rausch anderer Verlockungen verfällt.
Die Stadt erschreckt, enttäuscht, verändert ihn – und wird zeitgleich selbst zum Protagonisten der Geschichte.
„Die Stadt war das mächtige Zentrum, um das die Dörfer
als winzige Planeten kreisten, als ewige Satelliten
und Teil von ihr, und wenn sie in die glühende Atmosphäre
dieser Sonne gerieten, mussten sie sich den
neuen Bedingungen von Druck und Klima anpassen.“(212)
Mit einer gewaltigen Prise Ironie skizziert Pidmohylnyj Stepans Werdegang, lässt seine naiven Vorstellungen von platonischer Liebe, politischer Ideologie, der eigenen Positionierung in der Gesellschaft – und dem geliebten Heimatdorf – nach und nach zerbröckeln.
Zum Teil findet eine im psychologischen Entwicklungsroman erwartbare klassische Desillusionierung statt – allerdings beinhaltet „Die Stadt“ zahlreiche herausragende Nuancen, Komplexitäten, ungemütliche, scharfsinnige Episoden, die Lesende mit einem lachenden und einem weinenden Auge fortfahren lassen.
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An Aktualität hat dieser nun fast einhundert Jahre alte Roman jedenfalls kaum eingebüßt. Stepan könnte als naiver Kleinstadtbursche mit Verantwortungsposition, der voller Grauen seine eigene Nichtigkeit in der Metropole entdeckt, auch im zeitgenössischen Kontext „florieren“.
Etwas antiquiert ist womöglich der Umgang mit der offensichtlich sexistischen, misogynen Haltung, die der junge Mann in allen Beziehungen mit weiblichen Figuren zu Tage bringt und selbst an keinerlei Stelle wahrnimmt.
Dass diese Haltung weder seinen Werdegang noch seinen introspektiven Charakter in keinerlei Art und Weise zu berühren scheint, überrascht im Kyjiw des angehenden 20. Jahrhundert niemanden – denn sie ist die geltende Norm und wird auch in den Aussagen anderer Figuren bestätigt.
Obwohl Aspekte wie Gesellschaftskritik, der Stellenwert von Literatur, die Essenz des Künstlertums und die zeitgenössischen politischen Entwicklungen gelungen thematisiert werden, ist es die Beziehung zwischen Stepan und der Stadt, die mehrwerdend fokussiert wird und als die mit Abstand faszinierendste Dynamik dieses Romans gilt.
„Wissen Sie, was diese Stadt im Grunde ist?
Ein historischer Leichnam.
Seit Jahrhunderten rottet sie vor sich hin.
Sie müsste mal ordentlich durchgelüftet werden.“(151)
Über Beschreibungen der Atmosphäre (Straßen, Zimmer, Institutionen, Kneipen) und Mentalitäten (ungeschriebene und geschriebene Gesetze, Gefahren, Ideologien, Trends, Einflussträger) der Stadt selbst hinausgehend rücken zunehmend zwei interessante Aspekte in den interpretativen Vordergrund.
Erstens geht es im Roman um die Kontrastierung von Stadt und Land einerseits. Anhand von Stepans Bild von und Vorstellungen zu beiden Polen, der Offenbarungen und Erkenntnissen, die zur Desillusionierung bezüglich beider Orte führen – und schließlich dem vollständigen „Verschlingen“ des Protagonisten – steht die Stadt triumphierend als endgültiger Held und argumentativer „Sieger“ am Ausklang der Geschichte.
Andererseits wird der ständige psychologische und soziale Wandel einzelner Figuren (auch die Nebenfiguren in diesem Roman sind sehr interessant und facettenreich) mit der monolithischen Position der Stadt verglichen.
Der Vergleich von Stepans Gedanken, Idealen und Positionen zu Beginn der Handlung mit derjenigen Person, die er zum Schluss des Romans geworden ist, lässt eine offensichtliche, durchgängige Ironie erkennen, da die Figur in fast allen Punkten eine moralische Relativierung durchmacht und seine Ideale – dies selbst weiterhin größtenteils nicht bemerkend und sich für ein überdurchschnittlich vorbildliches Mitglied der Gesellschaft haltend – verrät.
„Das waren sie also, die Städter! Krämer, verrückte Lehrer,
unbekümmerte Modepüppchen, die sich um lauter Nichtigkeiten
sorgen. Hinausfegen, zerquetschen musste man diese
in Verderbnis und Ausschweifung lebenden Würmer, und
ihre Stellen mussten andere einnehmen.“(46)
Das Faszinierende an diesen Entwicklungen ist schließlich ihre Sichtbarkeit für Lesende an recht frühen Punkten der Erzählung sowie die klar auktoriale Haltung gegenüber dem Protagonisten, der nie mehr als ein Bauer in Pidmohylnyjs erzählerischem Schachspiel sein wird.
Auch dies bemerkt Stepan selbstverständlich nicht, was den humoristischen Gehalt des aus politisch äußerst schwierigen Zeiten stammenden Romans um einiges erhöht.
Walerjan Pidmohylnyj hat mit „Die Stadt“ ein faszinierendes, facettiertes, historisch und psychologisch gewichtiges Portrait der ukrainischen Metropole Kyjiw gezeichnet, die seinen zeitgenössischen Betrachtungen voll und ganz entspricht.
Umso mehr faszinierte die Entdeckung einer Großstadt, die vergleichsweise in nur wenigen Punkten von unserer jetzigen Realität abweicht.
Meinerseits spreche ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung für Interessenten ukrainischer und sowjetischer Geschichte sowie Fans von Entwicklungsromanen und psychologischen Romanen aus.
1 – vgl. auch Nachwort der Übersetzer, S. 392–409.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Die Stadt
Autor:in: Walerjan Pidmohylnyj
Übs.:in: Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald u. Lina Zalitok
416 Seiten | 26,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 04.03.2022
Verlag: Guggolz
ISBN: 978-3-945370-35-3
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Kategorien:Home, Klassiker, Neuerscheinungen
Danke für diese interessante Rezension. Das Buch war schon vorher auf meiner Wunschliste. Jetzt hast du mich definitiv noch neugieriger gemacht.
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Vielen Dank, liebe Hiltrud, ich wünsche Dir ein hervorragendes Leseerlebnis!
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