Der Nobelpreisträger Knut Hamsun (1859–1952) war einer der bedeutendsten skandinavischen Romanciers des frühen 20. Jahrhunderts und Begründer der literarischen Moderne – doch wird sein Ruhm als Schriftsteller aufgrund der Sympathie für Adolf Hitler und die Nationalsozialisten überschattet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hamsun wegen „Schädigung des norwegischen Staates“ zur Zahlung einer Strafe von 325.000 Kronen verurteilt.
Hamsuns werke dürfen ab 2023 gemeinfrei verwendet werden, im Januar diesen Jahres erschien die Neuübersetzung von „Hunger“. Unter welchen Umständen kann dieses literarische Meisterwerk in Betracht gezogen werden?

Knut Hamsuns Roman „Hunger“ erschien in der Erstausgabe im Jahr 1890 und wurde nun neu übersetzt von Ulrich Sonnenberg.
Das Buch handelt von einem verarmten Künstler und seinem qualvollen Überlebenskampf; den tagtäglichen Wirrungen auf den Straßen der norwegischen Hauptstadt Oslo – damals unter dem Namen Kristiania bekannt.
Argumentativ spiegelt diese Geschichte Hamsuns eigenen Werdegang wider: der Autor wanderte hoffnungsvoll in die USA aus und kehrte nach einigen Jahren desillusioniert und verarmt zurück ins Heimatland.
Parallelen wie Gelegenheitsjobs für diverse Zeitungen, drohende Obdachlosigkeit sowie ständige finanzielle Hilflosigkeit zeichnen Biografie und Buch aus.
Doch ultimativ beschäftigt „Hunger“ sich mit ganz anderen Ideen und Motiven.
Diese fesselnde Geschichte eines offensichtlich geistig begabten, womöglich genialen jungen Mannes, dem es nie gelingt, eine stabile Existenz zu begründen, ist in gleichen Maßen enorm faszinierend – und inspiriert eine mindestens ebenso große Abneigung gegenüber dem Protagonisten.
Sowohl sprachlich als auch inhaltlich betrachtet ist es kaum möglich, diesen Text, in dem eigentlich wenig geschieht, aus den Händen zu legen. Problematisch und schwierig wird eine faire Textanalyse allerdings erst aufgrund der Beilagen einer jeden Hamsun-Ausgabe: Meines Erachtens sollten Texte kontroverser Autor*innen nämlich bestenfalls mit einer kritischen Reflexion, mindestens aber einer sachlichen Information zur Biografie – nicht mit Polemik und Begeisterung, ohne historische Kontextualisierung, Verharmlosung des Gewesenen – begleitet werden.
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Wie also diesen Roman, der seinen Ruhm nicht einbüßen sollte, lesen? Sollte Hamsuns Werk überhaupt noch rezipiert werden?
Definitiv halte ich es für wichtig, literaturgeschichtlich maßgebliche Werke, theoretische Zäsuren und Revolutionäres im Romandiskurs sowohl in einem historischen als auch wissenschaftskritischen Rahmen zu rezipieren und zu analysieren.
Gerade „Hunger“ kommt hier argumentativ eine Sonderstellung zu, da dieser Roman zum Frühwerk Hamsuns gehört und gemeinsam mit „Pan“ (1894) bahnbrechenden Nachhall für die literarische Moderne hatte.
Noch zum 150. Geburtstag des norwegischen Autors spalteten Diskrepanzen und Konflikte auch Hamsuns Heimat. So verteidigte beispielsweise Königin Sonja das Hamsun-Jahr, indem sie für die Trennung von Literatur und Autor plädierte – erntete jedoch ordentlich Kritik, unter anderem mit dem Argument, Herrscher*innen hätten auch Genies nicht zu huldigen, wenn diese Nationalsozialisten gewesen sind.
Was nun aber Hamsuns Roman betrifft, werden dem Romancier wohlgesinnte Detektiv*innen auch in „Hunger“ apologetische Krümel finden können – Hamsun sei stur gewesen, habe schon eine psychisch labile Mutter gehabt, im hohen Alter von Altersschwäche heimgesucht worden, et cetera.
Das Leben des Protagonisten im Roman spiegelt interpretativ in vielerlei Hinsicht auch Hamsuns defragmentierende Psyche wider – und zeigt in der Tat äußerst ungeschönt den Zerfall eines jungen Mannes in ständigen Spiralen zwischen Panik und Existenzangst, Hochgefühl und Selbstbewusstsein, zwischen mit Reichtum und Ruhm gefüllten Luftschlössern und der leeren, kalten, schmerzenden Realität der absoluten Armut.
Beginnende Halluzinationen, Größenwahn, selbstzerstörerisches Verhalten, Hysterie und eine wachsende Hilflosigkeit sind nur einige derjenigen Symptome, mit denen der namenlose, obdachlose, geldlose Protagonist von Tag zu Tag zu kämpfen hat.
Insofern autobiografische Linien gezogen werden könnten, wäre es fast schon kein Wunder mehr, dass der Autor nach (unter anderem) dem verlorenen Existenzkampf in den Vereinigten Staaten das Bedürfnis hatte, sich an etwas Großes zu klammern, einer Radikalideologie anzuhängen – um eine gewisse Sicherheit und ein Gefühl der Kontrolle ernten und behalten zu können.
Interessanterweise ist auch der Protagonist in „Hunger“ alles andere als sympathisch: er lobt sich seiner tadellosen Manieren, und belästigt dennoch stets Passanten; lügt, betrügt heuchelt und stiehlt – obwohl er gerade letzteres als persönliche Niederlage festhält – und schleicht mehrwerdend ehrenlos durch die Straßen einer Stadt, die ebenso von Armut und Arbeitslosigkeit heimgesucht wird wie der elendige Protagonist selbst.
Sofern also aufgrund einer – absolut subjektiven und oberflächlichen – Analyse festgelegt werden kann, dass „Hunger“ ein kulturpessimistisches Manifest ist und sich auf die conditio humana schlechthin bezieht, zeigt der Roman auch auf Hamsun selbst als Teil einer gottverlassenen Welt.
In diesem Fall sollte „Hunger“ als bahnbrechendes Werk der beginnenden literarischen Moderne eine absolut prominente Position im literaturgeschichtlichen Diskurs beibehalten.
Doch – und gilt dies für beide Optionen – führt der Weg zu der eventuellen Erkenntnis zum Genie von Knut Hamsuns Frühwerk unbestreitbar über seine Biografie. Wer den Autor verlegt, hat meines Erachtens eine Verantwortung, diese Schritte nicht auszusparen.
Wer keine Lust auf Umwege hat, der lese beispielsweise Camus, Kafka, Guy de Maupassant, Joris-Karl Huysmans, Henrik Ibsen, Walerjan Pidmohylnyj – oder jeden anderen mehr oder weniger bekannten Vertreter der europäischen literarischen Moderne.
Hier geht’s zur Leseprobe von „Hunger“.
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Bibliografie:
Titel: Hunger
Originaltitel: Sult
Autor*in: Knut Hamsun
Übs.*in: Ulrich Sonnenberg
256 Seiten | 25,00 € (D)
Erscheinungsdatum: 11.01.2023
Verlag: Manesse
ISBN: 978-3-7175-2560-8
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