… dass da drinnen doch jemand war. Toni Morrison: „Rezitativ“

Die US-Amerikanische Autorin, Professorin, Essayistin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison (1931–2019) ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen des 20. sowie 21. Jahrhunderts. Ihre Texte beschäftigen sich mit zeitgenössischen und historischen Auswirkungen, Facetten und Traumata Schwarzer Geschichte – und besitzen eine unübertroffene seelische sowie geistige Wucht.

Welche besondere Position besetzt die einzige Erzählung der Autorin – und warum ist „Rezitativ“ nicht nur im Rahmen des Gesamtwerks, sondern im Kontext Schwarzer Literaturgeschichte ein einzigartiger Text?


© Rowohlt

Toni Morrison hat zahlreiche fesselnde und bewegende Romane und Essays veröffentlicht, die sich auf intensive Art und Weise mit den schwerwiegenden Traumata Schwarzer Geschichte auseinandersetzen.

Im zuletzt erschienenen üppigen Essayband „Selbstachtung“ analysiert Morrison unter anderem ihre eigenen Texte mit kritischem Blick und bettet diese in eine aufeinander bezogene, intertextuelle – sowie literaturhistorisch verknüpfte – facettenreiche Narrative ein.

„Rezitativ“, die einzige Erzählung der Autorin, ist vor Kurzem in deutschsprachiger Übersetzung von Tanja Handels erschienen und behält nicht nur im Gesamtwerk der Autorin, sondern im Diskurs Schwarzer Geschichte eine essenzielle Rolle.


Die Protagonistinnen Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim, wo sie einander Trost und Halt bieten und zu Vertrauten werden, einander gegen die feindlich gesinnte Außenwelt stützend.

Obwohl auch ihr Schicksal traurig und bemitleidenswert ist: im Kontext der verwahrlosten, verlassenen kleinen Menschen im Kinderheim sind beide Mädchen anders. Sie sind nicht richtige Waisenkinder, da ihre Mütter noch leben. Doch keine der beiden Frauen ist imstande, sich um die eigene Tochter zu kümmern.


Am Anfang mochten wir uns nicht besonders,
aber von den anderen wollte niemand mit uns spielen,
weil wir keine richtigen Waisen mit lieben verstorbenen

Eltern im Himmel waren. Uns hatte man abserviert.(9)


Eher aus Notwendigkeit als aus Sympathie haben die Mädchen einen Bund gegründet; eher aus Bequemlichkeit haben sie sich dazu entschieden, Freundinnen zu werden.

Nach dem Kinderheim verlieren die Mädchen sich aus den Augen – begegnen einander mit einem Abstand von Jahren zufällig immer wieder. Eine Freundschaft verwandelt sich in einen Konflikt: Proteste, Unruhen, das Schicksal ihrer Kinder und eine verschwommene Erinnerung lassen die Frauen auf gegenüberstehende Seiten treten.

Denn im Kinderheim ist damals etwas grauenvolles passiert. Sind Twyla und Roberta allerdings die Täterinnen gewesen – und wessen Erinnerung trügt?


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So vage und allgemein die Erzählung auf den ersten Blick formuliert ist, umso klarer wird mit jeder Vertiefung die Sorgfalt der gewählten Wörter, Ausdrücke, Zuschreibungen und Kulissen.


Es gibt keinen rasch hingeworfenen Morrison-Text,
keinen Lückenbüßer-roman, kein Auf-der-Stelle-Treten,
kein Abweichen vom geraden Weg.“(47)


Nicht unbedingt die 44-Seitige Erzählung selbst, sondern das erhellende, leidenschaftliche, fundierte Nachwort von Zadie Smith mit dem Titel „… dass da drinnen doch jemand war“, lässt Lesende tiefer in die Abgründe der Gegenüberstellungen und Dynamiken von und zwischen Twyla und Roberta blicken.

Smith analysiert – in Anlehnung an ihre eigenen intensiven Recherchen zum Text und in Anbetracht einiger Sekundärquellen – die möglichen Aspekte, anhand derer klargestellt werden könnte, welche der beiden Mädchen nun Schwarz und welche weiß ist – und gelangt immer tiefer in ein Labyrinth aus Codierungen, Vorurteilen, Doppelbödigkeiten und klugen sprachlichen Entscheidungen, die sie nicht ein Stück näher an die gesuchte Wahrheit bringen.

Doch gelangt Smith zu einer anderen Erkenntnis: Das Herzstück der Geschichte sind gar nicht die Protagonistinnen.


Vielleicht ging es ja um die Sache selbst.
Dass wir dort gewesen waren, zusammen.

Zwei kleine Mädchen, die wussten,
was auf der ganzen Welt sonst niemand wusste –
wie man keine Fragen stellt.“(27)


In einer herzzerreißenden Offenbarung zeigt Smith, wie menschliche Grausamkeit, die vermeintliche Rettung des Selbst zugunsten der Erniedrigung eines anderen und rassistisches Verhalten innerhalb von wirtschaftlich benachteiligten Gemeinden eher als Norm als Ausnahme gelten.

Wie kurz zwei junge Mädchen innehalten müssen, um sich entschlossen auf die Seite eines Peinigers zu gesellen – sofern klar ist, dass sie sonst selber leiden würden.

Ebenso erschütternd ist der allegorische Boden einer solchen Geschichte, die abrupt dazu ermutigt, die eigene Vergangenheit kritisch zu hinterfragen und auf Mikroaggressionen zu untersuchen.


Schlussendlich erreicht die Nobelpreisträgerin und literarische Meisterin mit ihrem Text exakt das argumentativ beanspruchte: Morrisons „Rezitativ“ transzendiert rassifizierte Konventionen.

Die Suche nach einer vermeintlich relevanten Wahrheit offenbart weit wichtigere Tatsachen über menschliche Dunkelheit, über aus Angst geborener Grausamkeit.

Und ermutigt Lesende, reflexiv das eigene Verhalten unter die Lupe zu nehmen.

Mehr kann an dieser Stelle ohne zu spoilern nicht verraten werden. Eines steht fest: Für Morrison-Fans ist auch „Rezitativ“, gerade in Kombination mit der hervorragenden Textanalyse von Zadie Smith, eine dringende Leseempfehlung.

Hier geht’s zur Leseprobe.

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Bibliografie:

Titel: Rezitativ
Originaltitel: Recitatif
Autor*in: Toni Morrison
Übs.*in: Tanja Handels

96 Seiten | 20,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.03.2023
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00364-7

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1 Antwort

  1. Habe von Toni Morrison nur

    ein Buch gelesen: “ Gott hilf dem Kind“. Dieser hat mich umgehauen.

    Gefällt 1 Person

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