Geschlossene Gesellschaft. Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Die französische Autorin Virginie Despentes (* 1969) gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen literarischen Stimmen Frankreichs. Ihr Roman „Apocalypse Baby“ wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet.

Im neuesten Roman „Liebes Arschloch“ zeigt Despentes anhand einer ungewöhnlichen Protagonist*innen-Trias meisterhaft die Nuancen menschlicher Verletzlichkeit und Schwäche auf – und unternimmt eine knallharte Bestandsaufnahme der wichtigsten Diskurse unserer Zeit.


© Kiepenheuer & Witsch

Virginie Despentes‘ neuester Roman „Liebes Arschloch“, übersetzt von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis, kann in vielerlei Hinsicht als scharfsinniger Gesellschaftsspiegel interpretiert werden.

Despentes gelingt mit der Form des Briefromans eine authentische Darstellung von aus pandemischer Not aufgezwungenen Kommunikationsstrukturen – und den teils zerstörerischen, teils therapeutischen Auswirkungen von ständiger Einsamkeit.

Traumata, prekäre Erinnerungen und diverse Konflikte binden die drei Figuren aneinander.

Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig, und Oscar, Autor, dreiundvierzig, kennen einander eigentlich. Doch dies hindert sie nicht daran, auf Instagram größere Mengen an Hass in die Richtung des anderen zu versprühen.

Zoé, Ende zwanzig, war Oscars Pressereferentin und hat den beruflichen Kontakt mit Oscar nach traumatisierendem Verhalten seinerseits abgebrochen.


Sofern es vorrangig Oscar – das Arschloch – ist, der beide der Protagonistinnen verletzt, verärgert und beleidigt, sind alle der drei Figuren von Aggression und bitterer Enttäuschung gezeichnet, als sie online aufeinander treffen. Zoé beschuldigt Oscar des körperlichen Missbrauchs, Oscar sieht Rebecca als abgehalftert – und Rebecca empfindet sich als zu gering geschätzt, was sie zu einem gewissen Grad an Misanthropie verleitet.

Alle drei Beziehungen werden von dramatischen Ereignissen und Konfliktsituationen initiiert: In einem Instagram-Post bezeichnet Oscar die Schauspielerin, die er früher maßlos bewunderte, als verkommen und verlebt.

Rebeccas Antwort sprudelt von intensiver Wut für das Arschloch – die gegenseitigen ungemein heftigen Beleidigungen fungieren allerdings als authentische und gelungene Kostprobe dessen, welches Ausmaß anonymer Online-Hass des Öfteren erreichen kann.


Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem
Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf
mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, […] und ihre
Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen.“(6)


Als sich herausstellt, dass Oscar und Rebecca einander eigentlich persönlich kennen, ändert sich zwar der Grundton der Unterhaltung – doch nicht die Intensität an Wut und Misere, die beide nicht unbedingt aufeinander, doch auf die Welt bezogen in sich tragen.


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Überraschend sind in puncto aller Dynamiken die augenscheinlich tiefgründigen Veränderungen, die die Protagonist*innen schließlich ineinander hervorrufen: Oscar scheint Rebecca graduell hoffnungsvoll zu stimmen, Rebecca mutet versöhnlich Oscar gegenüber an.

Es gibt zahlreiche Momente, in denen vor allem Rebecca, doch auch Oscar, über sich hinausgehen, ihre gemeinsame Drogensucht für eine maßgebliche Zeitdauer überwinden, einander anscheinend therapieren, zu Optimismus und innerer Ruhe bewegen. Es findet eine Heilung zwischen Oscar und seiner Tochter statt; seine Schwester, die in jüngeren Jahren mit Rebecca befreundet war, begründet die Beziehung zur Schauspielerin neu.


Doch dürfen Lesende zu keinem Zeitpunkt vergessen, dass alle drei Hauptfiguren in einem hochgradig selbstdarstellerischen Berufsfeld unterwegs sind und stets ein vorsichtig kuratiertes Bild von sich selbst in die Außenwelt projizieren.

Die entscheidende Stimme in Despentes‘ Roman gebührt Zoé Katana – diese unerschütterliche Stimme der empirischen Realität, das zynische Vergrößerungsglas und der feministische Kompass der Trias.

Der harte Kern dieser bittersüßen literarischen Frucht.


Was wir heute enthüllen, sind keine beiläufigen Missgeschicke.
Man zerrt unsren Körper mit Gewalt aufs Schlachtfeld, um ihn
zu verstümmeln. Dass wir Nein sagen, ist Teil des Spektakels.“(29)


Zoé fungiert im Roman weder als Ausgleich noch als Kontrast der beiden anderen Hauptfiguren: in meinen Augen stellt sie denjenigen Teil dar, den sowohl Oscar als auch Rebecca an ihrer unmittelbaren zeitgenössischen Realität ausblenden und verschweigen.

Eine Gegenüberstellung mit Rebecca zeigt, wie die fünfziger-Generation es gewohnt ist, Missbrauch stillschweigend in Kauf zu nehmen und sich dem Regelwerk des Patriarchats untergeordnet hat. Anhand von Zoé wird deutlich, wie die dreißiger- und zwanziger-Generationen die Auswirkungen sowie den Nachhall von #MeToo schultern und weiter tragen – stets voller Wut, immer bereit für den Kampf.

Als interpretative Tragik des Ganzen bleibt im Raum stehen, dass durchschnittliche Männchen wie Oscar dennoch weiterhin unversehrt und sogar mit beruflichem Erfolg aus solcherlei Konfliktsituationen gehen – die emotionalen Konsequenzen bei ihren Opfern lassend, als Arschloch weiterhin unschuldig pfeifend und in die Luft schauend, während Zoé von Frauen und Männern dafür verhöhnt wird, unapologetisch die Wahrheit zu sagen und zu ihren Gesichtspunkten zu stehen.

Männliche Verbrechen nicht zu vergeben.


Die Weiblichkeit ist ein Gefängnis,
und wir kriegen lebenslänglich.“(318)


An einer Stelle lässt Despentes Oscar erbarmungslos von seiner eigenen Medizin kosten – ob nach dem entsprechenden Ereignis allerdings wirklich eine innere Evolution stattfindet, bleibt interpretativ offen.

Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.


Mit Biss und Intensität entblößt Virginie Despentes dasjenige, was progressive feministische Diskurse auch im nächsten Jahrhundert nicht überwinden werden können: alle Menschen sind Arschlöcher. Die Monologe, Dialoge und Diskurse in diesem Roman illustrieren diese Wahrheit ungeschönt und klug, bringen zugleich zum Verzweifeln und zum Schmunzeln.

Für Freund*innen von schonungslosen Auseinandersetzungen mit dem emotionalen Spektrum des Menschseins liegt hier definitiv eine Leseempfehlung vor.

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Bibliografie:

Titel: Liebes Arschloch
Originaltitel: Cher connard
Autor*in: Virginie Despentes
Übs.*in: Ina Kronenberger, Tatjana Michaelis

336 Seiten | 24,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 09.02.2023
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-00499-1

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