Seelenlose Blutwurst. Upton Sinclair: „Der Dschungel“

Der US-Amerikanische Journalist, Aktivist und Autor Upton Sinclair (1878–1968) veröffentlichte diverse sozialkritische Romane, Essays und Erzählungen. Nicht nur besitzt der Romancier in der Literaturgeschichte seines Landes bis dato eine zentrale Position – Sinclairs Werk hatte einen direkten Einfluss auf die zeitgenössische Gesetzgebung. Im Jahr 1943 wurde Sinclair mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Aus welchen Gründen löste Upton Sinclairs Roman „Der Dschungel“ gleichzeitig einen Skandal aus – und wurde zum internationalen Bestseller?


© Unionsverlag

Die Authentizität der facettenreichen, fesselnden, hochgradig realistischen Erzählwelten in Upton Sinclairs Roman „Der Dschungel“ (The Jungle, 1906) wird bereits auf den ersten Seiten deutlich.

Dies ist nicht nur schöpferischem Talent und erzählerischer Begabung, sondern auch den waghalsigen Methoden des Romanciers zu verdanken.

Sinclair schöpfte beim Entwerfen seiner literarischen Kulissen nämlich stets aus erster Hand: der Autor arbeitete sieben Wochen lang in Chicagos Fleischwerken, um seinem Roman „Der Dschungel“ (The Jungle, 1906) denjenigen authentischen und nuancierten faktischen Boden zu verleihen, der an diesem Buch vorrangig zu loben ist.

„Der Dschungel“ schildert die überaus unmenschlichen Arbeitsbedingungen und zeigt die prekären Hygieneverhältnisse in der US-amerikanischen Fleischkonserven-Industrie in den Union Stock Yards Chicagos zum Jahrhundertwechsel.


Sinclairs Aktivismus, politische Tätigkeiten und der Erfolg seiner Romane hatten kombinatorisch einen direkten Einfluss auf mehrere Verbesserungen in der Lebensmittelbranche, trugen zur Verfassung des Verbraucherschutzgesetzes und schließlich indirekt sogar zur Gründung der Food and Drug Administration (FDA) bei.

Faszinierend ist an diesem Roman der gekonnte Ausgleich zwischen einerseits offensichtlich kundigen, sachlichen, komplexen Ausführungen zu Strukturen, Hierarchien, Arbeitsbedingungen, soziopolitischen und juridischen Prozessen in den einzelnen Abteilungen der Fleischwerke – und andererseits den emotionalen und psychologischen Tiefen der Figuren, die in diesen elendigen Zuständen gemetzelt werden.


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Als Jurgis Rudkus mit seiner schönen Braut Ona und deren Familie in Chicago ankommt, ist sein Kopf voller Träume, Ambitionen und Überzeugung. Weder von den ungemütlichen Umständen des ersten Eigenheims noch den harten Bedingungen auf der Arbeitsstelle in den Schlachthöfen der Chicagoer Fleischwerken lässt Jurgis sich einschüchtern.


Für ihn gilt nur eine Devise: Es gibt keine Hindernisse für einen jungen, starken Mann wie ihn. Was auch immer das Problem sein mag, sieht Jurgis die einfache und erreichbare Lösung stets vor ihm am Horizont: er muss einfach immer noch viel härter arbeiten.

Bis ihm jedoch nach und nach, klarer als klar wird, wie diese Industrie nicht nur ihre Tiere skrupellos und mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit in Einzelteile zerlegt – sondern ebenso routiniert über die Leichen ihrer Mitarbeiter:innen geht.


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Vorrangig an Sinclairs Umgang mit Innenperspektiven merkt man die argumentativ archaische Natur dieses Romans: der Autor nähert sich seinem Protagonisten in psychologischen Superlativen, nutzt des Öfteren Ausrufezeichen bei der Erörterung auch ohne solche Interpunktion entsetzlicher Schicksalsschläge – und spricht dem offensichtlich eher robust besaiteten Jurgis eine variable Emotionalität zu.

Wäre „Der Dschungel“ also lediglich die Auseinandersetzung mit einer Familiendynamik und würde der auktoriale Erzähler darüber berichten, wie aus einem naiven, gutmütigen jungen Mann ein egozentrischer, seelenloser Schurke wird, gäbe es einiges zu unterstellen: plakative Zuschreibungen, repetitive Ereignisse, situative Übertreibungen.

Allerdings balanciert der sentimentale Erzählton die harte, gefühlslose Masse der industriellen Facetten hervorragend aus: Sobald Jurgis eine grauenvolle Begegnung mit einer entmutigenden Erkenntnis erfahren hat, werden Lesenden ungeschönte Tatsachen über die Kausalitäten und Zahnräder hinter diesen Erkenntnissen erläutert, sodass man:frau sich zum Ende der Lektüre ein außergewöhnliches Maß an Fachwissen angeeignet hat.

In puncto sozialkritische Auseinandersetzungen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist „Der Dschungel“ bereits auf einer informativen Basis also sehr lesenswert. Als zum Jahrhundertbeginn passend expressionistisch-naturalistische Milieustudie ist Sinclairs Roman ebenso mit Höchstnote zu bewerten.


Erwähnenswert sind einige wenige Kritiken zum Roman, die bei Hintergrundrecherchen sichtbar wurden: „Der Dschungel“ sei sozialistische Propaganda, erzählerisch monoton, offensichtlich als belletristisches Manifest zu verstehen, welches Lesende in die Arme der sozialistischen Parten schleusen möchte.


Ohne das Ende der Geschichte spoilern zu wollen: würde ein zynischer Blick auf das Schicksal des Romans als internationaler Bestseller seine Massentauglichkeit insofern bestätigen, dass die Geschichte in puncto Literarizität und Handlungslinien einfach gestrickt ist? Um die furchtbaren Realitäten, die der Roman wiedergibt, als Lektüre zu vereinfachen?

Insofern Jurgis als „einfacher Mann aus dem Volke“ an Beliebtheit gewonnen hat, der einfach nicht mehr gegen sein zu grausames Schicksal ankommt und an seinen Umständen zur Neige geht, findet er auch in der Berührung mit diversen politischen Gruppen oder Ideologien weder Rettung noch echte Erkenntnis. Argumentativ werden diese genauso oberflächlich behandelt wie ein sehr flüchtiger Besuch in einem höchst wohlhabenden Haus.


Als introspektiver Roman mit psychologischer Finesse oder radikaler politischer Überzeugungskraft ist „Der Dschungel“ nicht in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen.

Es handelt sich um die realistische Spiegelung einer brutalen Realität, die Upton Sinclair in einer Kombination von Bekanntmachung, Aktivismus, journalistischer Mühe und Herzensblut dazu verhalf, bei einer bereits geschehenden Revolution mitzuwirken.


Das von Determinismus und Zynismus geprägte Menschenbild sowie die Feststellung, dass sämtliche Lebenswege ja doch zu einem grausamen Tod führen, sind eher naturalistische Motive, die gekonnt zu dem elendigen Gesamtbild beitragen, welches sicherlich nicht die Chicagoer Fleischindustrie, sondern zahlreiche US-Amerikanische und europäische Großstädte zum Beginn des 20. Jahrhunderts darboten.

Für diejenigen Lesenden, die sich für US-Amerikanische Geschichte, tragische Familienschicksale und sozialkritische Werke interessieren – und vor expliziten Darstellungen voller Krankheit, Zerstörung und Elend keine Scheu haben –, sollte „Der Dschungel“ daher ein sehr interessantes Leseerlebnis werden.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Der Dschungel
Autor:in: Upton Sinclair
Übs.:in: Ingeborg Gronke

416 Seiten | 16,95 € (D)

Erscheinungsdatum: 17.7.2014 (5. Aufl.)
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-20664-9

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  1. Ein Autor, den ich immer mal lesen wollte. Danke für die wunderbare Erinnerung. Viele Grüße

    Gefällt 2 Personen

  2. Lese ich in diesem Roman herum, merke ich, wie ich gar nicht mehr diese direkte, gerade Erzählweise gewöhnt bin, ohne Lücken, ohne Sprünge, einfach narrativ auf eine Beschreibung abzielend. Ich bin erstaunt, wie gut sich Upton Sinclair lesen lässt:

    „Nachdem es einige Zeit in Bottichen voller Chemikalien gelegen hatte, spießten Männer mit großen Forken es dort heraus und warfen es auf Karren zum Transport in die Kocherei. Hatten sie alles, was sie erreichen konnten, herausgefischt, kippten sie den Bottich auf den Boden aus, kratzten dann mit Schaufeln die Reste zusammen und taten diese Schabsei ebenfalls auf den Karren. Obwohl der Fußboden mehr als schmutzig war, ließ man Antanas die Lake mit seinem Schrubber in einen Abfluss schwabbern, der zu einem Becken führte, wo sie aufgefangen wurde, um immer wieder neu verwendet zu werden.“

    In neueren Literaturen muss ich immer unglaublich viel hinzuerfinden, um die Zusammenhänge zu sehen, hier werden sie einfach und schlicht gegeben. Ein wirklich interessantes, mich begeisterndes Buch. Danke für den Tipp.

    Gefällt 1 Person

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