Maden in Goldstaub. Maria Kjos Fonn: „Heroin Chic“

Die norwegische Autorin und Journalistin Maria Kjos Fonn ist eine der interessantesten Autor:innen auf der jungen europäischen Literaturlandschaft. Sie hat bereits mit ihrem Debütroman „Kinderwhore“ internationalen Erfolg und nationale Literaturpreise geerntet.

Warum wurde Fonns neuer Roman „Heroin Chic“ in Norwegen als einer der wichtigsten Romane des Jahres gelobt – und ist die schwierige Lektüre wahrhaft lesenswert?


© culturbooks

Maria Kjos Fonn begann ihre eigentliche belletristische Karriere mit der Veröffentlichung von Kurzgeschichten.

Ihre Sammlung „I Have Never Told Anyone About This“ erschien im Jahr 2014 und brachte ihr bereits Lobpreisungen als talentierte und ungewöhnliche Erzählerin ein.

Fonns neuester Roman „Heroin Chic“, aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs, wurde von der Zeitung DN (Dagens Næringsliv) als der stärkste Roman des Jahres gepriesen.

Fonn bewegt sich in den – man:frau könnte sagen für sie gewohnten – Grenzen, die bereits aus „Kinderwhore“ bekannt sind und berichtet über die scheinbar grundlose Selbstzerstörung einer jungen Protagonistin.

Obwohl sie bereits mit Titel und Themenwahl Gefahr läuft, unausweichlich ins Plakative zu irren, geschieht in „Heroin Chic“ alles außer dem Vorhersehbaren.


Und zuerst ganz banal,
wie einen kleinen Schnitt im Papier,
gab es in mir einen Riss, der sich langsam öffnete.“(50)


Mit einer faszinierenden Technik balanciert Fonn zwischen Schönheit und Zerstörung, Liebe und Schmerz. Mit ihrer analytischen Nadel ertastet die Autorin an beeindruckend vielen Stellen der menschlichen Psyche weiche Stellen – um dann gnadenlos reinzustechen.


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Die schnörkellose Transparenz, mit der die Protagonistin Elise und ihre graduell zunehmend mit zerstörerischen Zügen ausgestattete Innenwelt konstruiert werden, lässt Formulierungen, die in anders gelösten Kombinationen eine geringere Auswirkung hätten, im Text absolut natürlich erschienen.

Dies gelingt, da der Autorin von Anfang an klar ist, wo die Grenzen, die Schwächen – und die Stärken ihrer Figuren liegen.


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Elise ist ein junges, hübsches, talentiertes Mädchen aus gutem Hause, deren Eltern sie bei jedem Schritt ins selbstständige Leben unterstützen und ihr tagtäglich einreden, wie wertvoll, besonders, rein und unnahbar sie ist.


Als talentierte Sopransängerin stünde Elise eine glänzende Zukunft bevor, denn ihre Mutter tut alles für die gemeinsame Musikliebe, sorgt für jeden Wunsch der goldenen Tochter und trägt sie stets in Watte.

Ebenda geschieht es, dass Elise diesen Zustand irgendwann nicht mehr aushält, und beginnt, die dunkleren, hässlicheren Seiten des Lebens aufzusuchen: über Alkohol zu Pillen zur Crackpfeife zur Spritze.


Ob ihr Weg zur Drogensucht von gewisser Art Fürsorge oder Misshandlung oder fürsorglicher Misshandlung beschleunigt wurde – und wer angesichts der spannender Figurenkonstellationen als wessen enabler fungiert (auch die Nebenfiguren interessieren. Die negativen mehr als die positiven, doch ist bis zum Ende eben nicht klar, wer auf wen negativen Einfluss ausübt und warum…) – lasse ich argumentativ offen für diejenigen, die den Roman bereits gelesen haben.


Allerdings wird das Leiden an sich, die Suche nach existenzialistischem Schmerz und den dunklen Seiten – sowie die Heuchlerei des demonstrativen Leidens auf philosophischer Basis – als etwas interessantes und als etwas plakatives behandelt.


Dein Leiden ist so rein […]. Nicht besudelt
von brutalen Vätern oder Müttern, die dich
im Stich gelassen haben. Es ist sich selbst genug.
Ein Grundstoff.“(126)


Nicht nur durch stilistische Stringenz, sondern durch diese Selbsterkenntnis gelingt Fonn eine außergewöhnlich authentische Schilderung von Elises Untergang: wie Drogensucht biochemisch entsteht und welche psychologischen und körperlichen Hürden man:frau zur Erhaltung der Nüchternheit, zur Vermeidung von Rückfällen, zur Stabilisierung des Gemüts, überwinden muss, besitzt kaum Neuwert.


Allerdings ist die Selbstzerstörung und die Abwendung von allen positiven Einflüssen so sachlich und beherrscht, dass die aus einer Ich-Perspektive erzählte Lebens- (und Sterbensgeschichte) als Lektüre ebenso einen Suchtfaktor annimmt.

Auch wenn man:frau ganz genau weiß, was in Teil IV passiert, so wie Teil III endet.

Maria Kjos Fonn hat mit „Heroin Chic“ den Zerfall einer talentierten, intelligenten, schönen Frau mit absoluter Transparenz und hoher Sachlichkeit geschrieben. Dennoch mangelt es in diesem Roman weder an Verständnis noch an Empathie. Fonn nähert sich Elise klar und deutlich wie einem besonders interessanten Versuchskaninchen – spricht der Protagonistin jedoch trotzdem ihre Menschlichkeit nicht ab.


Aufgrund der reflexiven und deduktiven Selbsteinschätzung und hohem Intellekt der Protagonistin entsteht eine scharfsinnige Kontrastierung dessen, wie deutlich Elise ihr Schicksal erkennt und mit welcher Wucht sie sich dennoch – berechenbar wie eine Labormaus – diesem Schicksal entgegenwirft.

So wäre es allen Beobachter:innen vollständig klar, was hinter der nächsten Erzählkurve wartet. Die Art der Protagonistin, mit dieser Klarheit deterministisch, fatalistisch und blasiert umzugehen, verleiht der gesamten Geschichte eine ungewöhnliche und ungeheuer faszinierende psychologische Komplexität.


Die finale Kehrtwendung ließ mich trotz ihrer kausalen Logik noch viel schockierter und entsetzter zurück als der Rest dieser brutalen Geschichte.

Mit ihrer letzten Entscheidung bezüglich des Geschehens hat Fonn in meinen Augen wahrhaft durchgezogen, was sie zu Beginn des Romans beanspruchte.

Wenn dies zu Beginn der Lektüre noch nicht klar war, wird zum Ende des Buchs sehr offensichtlich: Passagen dieses Romans, die auf den ersten Blick als plakativ oder klischeehaft erscheinen, sind als solche illusorisch. Sie bergen komplexe, vielschichtige Interpretationen über Menschlichkeit, Schwäche, Sucht, körperliche und seelische Zerstörung – und erhellende Reflexionen zur psychopathologischen Realität des gesamten behandelten Themenkomplexes.


Ich meinerseits spreche eine überzeugte Leseempfehlung für „Heroin Chic“ aus.

Hier geht’s zur Leseprobe.

Bibliografie:

Titel: Heroin Chic
Autor:in: Maria Kjos Fonn
Übs.:in: Gabriele Haefs

224 Seiten | 18,00 € (D)

Erscheinungsdatum: 14.03.2022
Verlag: Culturbooks
ISBN: 978-3-95988-186-9

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  1. Trotz deiner sehr positiven Lesebeschreibung werde ich dieses Buch meiden … Drogensucht als Thema entzieht sich mir … „Candy“ hat mich nachhaltig verstört. Ehrlich gesagt, habe ich vor dem Buch „Heroin chic“ geradezu beim Lesen der Rezension Angst bekommen, wenn auch noch eine klarsichtige Person diese Rolltreppe Abwärts eingeht. Ich weiß gar nicht, wie sich das poetisch gestalten lässt. Vielleicht lese ich auch zu immersiv – das hat mir viele Jahre Flaubert verlitten, den ich nun sehr mag. Viele Grüße.

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    • Sicherlich hat jede Person Themen, die trotz einer literarischen Aufarbeitung und einer sachlichen Behandlung nicht annehmbar, wünschenswert oder sympathisch sind – oder gar triggernd sein können. Es gibt glücklicherweise mehr als genügend andere hervorragende Lektüren auf dieser Erde. Lieben Gruß 🙂

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      • Ja, stimmt schon. Triggern ist vielleicht etwas heftig, aber „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ fand ich sehr krass. Kennst du andere Bücher, ähnlich zu „Heroin Chic“? Nur dass ich mich vorbereiten kann …

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      • Da ich Bücher zu der Thematik nicht aktiv aufsuche, kann ich keinen guten Vergleich ziehen. Aus meiner Sicht war z.B. der Missbrauch in Büchern wie „Kukolka“ wesentlich heftiger zu lesen. Vielleicht würde Dir die Leseprobe dabei helfen, das Ausmaß oder den Ton des Romans einzuschätzen? Ins detailliert Körperliche des Drogenmissbrauchs selbst geht die Autorin nicht; es geht eher um den Zerfall im allgemeinen und die Zerstörung im emotional-seelischen Sinn.

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      • Danke für den Tipp. Kukolka sagt mir nämlich nichts. Mal sehen, wie es mir mit der Lektüre geht. Viele Grüße.

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      • …dabei hattest Du den entsprechenden Beitrag bereits kommentiert 😉 aber gut, bei der Buchmenge schlüpft mir auch des Öfteren einiges durch die Finger/Erinnerung!

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      • Auf keinen Fall behalte ich all die schönen Bücher in Erinnerung. Aber googeln hätte ja geholfen 🙂 … andererseits merke ich mir Dinge durch Vernetzung besser und jetzt durch deine Bemerkung erst recht. Danke!

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Trackbacks

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