Die portugiesische Autorin, Künstlerin und Dichterin Yara Nakahanda Monteiro schreibt über politische und psychologische Gewalt, Selbstfindung, Freiheitskämpfe, Vergangenheitsbewältigung – und zeigt generationenübergreifende Traumata auf, die unerwartet langlebige und tiefgreifende familiäre Risse verursachen können.
Wohin führt die Suche der Protagonistin in „Schwerkraft der Tränen“ – und warum fällt diese inhaltlich schwere Lektüre schlussendlich unerwartet leicht aus?

Yara Nakahanda Monteiro wurde 1979 in der Provinz Huambo in Angola geboren und ist in Nordportugal aufgewachsen.
Derzeit lebt die Autorin in der Region Alentejo in Südportugal.
Monteiro bezeichnet sich in eigenen Worten als Ururenkelin der Sklaverei, Enkelin der Freiheit und Tochter der Diaspora.
Das kulturhistorische und politische Gewicht dieser persönlichen Narrativen reflektiert und analysiert sie in Vorträgen, Essays und Lesungen zum Themenkomplex afroeuropäische Identitäten.
Monteiros Debütroman „Schwerkraft der Tränen“ handelt von Vitória, die mit ihren Großeltern von Angola nach Portugal geflohen ist und sich nun als erwachsene Frau zurück in die Hauptstadt Luanda begibt, um die Spuren ihrer im Krieg verschollenen Mutter zu finden.
Vitórias Mutter habe sich in Angola den Rängen der Freiheitskämpfer angeschlossen und ihre Tochter als Baby bei den Großeltern gelassen.
Nun möchte Vitória ihre Mutter endlich kennenlernen, ihre Beweggründe verstehen – und, wenn möglich, die tiefen Risse flicken oder heilen, die die Einsamkeit und die endlosen unbeantworteten Fragen in ihr hinterlassen haben.
„Je näher wir dem Dorf kommen, desto deutlicher wird,
dass das offensichtlichste Zeichen des Krieges
die Stille ist, die sich über alles gelegt hat.
Selbst das trockene Gras rechts und links der Straße
hält den Atem an.„(19)
In einem ruhigen, sachlichen, dennoch sehr lebendigen, geradlinigen und direkten Ton schildert Monteiro Vitórias Familiengeschichte und die Flucht der Großeltern sowie die gekappte Beziehung zu ihrer Mutter.
Angenehm verteilt und getaktet ist die Gesamthandlung aufgrund ihrer kontinuierlich gut gewählten Kapitelführung, der dynamischen, jedoch nicht ausschweifenden zeitlichen Sprünge – und der sprachlichen Kontinuität.
Wenngleich in diesem Roman ständig eine Lebensgefahr zwischen den Zeilen lauert, die Bürden und Herausforderungen von Vitórias Großeltern, ihre eigenen Schwierigkeiten und inneren Kämpfe recht intensiv und schmerzvoll skizziert werden –
– von der Enthüllung des entsetzlichen Schicksals ihrer Mutter im späteren Handlungsverlauf mal ganz abgesehen –, schafft Monteiro ihrem Text eine Klarheit und innere Ruhe zu verleihen.
Ob ihre Protagonistin neben weinenden, verletzten Kindern oder einem gnadenlosen Soldaten steht, der es auf sie abgesehen hat: nie verliert Vitória ihren Fokus auf dasjenige, was sie finden möchte.
Sei ihr Innenleben so vernarbt und verschachtelt, wie es einem Individuum mit einem solchen emotionalen Erbe zuzumuten ist.
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Ebenso – wenn nicht umso mehr – mitreißend sind die Milieubeschreibungen aus Luanda, die Worte der Verwandten und Freundinnen, die Vitória aufnehmen und bei ihrer Suche unterstützen.
Treffend beschreibt die Autorin die Armut, die ständigen Gefahren, die bewundernswerte Resilienz und Selbstständigkeit der Frauen – die Mentalitäten, die Alltäglichkeiten und die Essenz dessen, was ihre Gedanken, Überzeugungen und Hoffnungen ausmacht.
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Im Grunde genommen wäre für „Schwerkraft der Tränen“ ausschließlich Lob in großen Mengen auszusprechen, da Monteiros Erzählerinnenstimme eine beeindruckende Sogwirkung besitzt.
Sowohl die Lebensumstände und gesellschaftlichen Strukturen und Nuancen im Luanda des 21. Jahrhunderts. Straßenecken, Treppenhäuser, Clubs, Mode – Monteiro geht mit auffällig viel Liebe zum Detail vor, obgleich ihr Sprachgebrauch im Wesentlichen absolut ungeschmückt bleibt.
Zudem werden die inneren Konflikte der Protagonistin klug und nuanciert behandelt: ihr Zwiespalt gegenüber diversen Familienmitgliedern, die Verhüllung der eigenen Homosexualität, die Etappen ihrer Selbstbefreiung auf dem Weg zur Wahrheit über das Schicksal der Mutter und der Umgang mit den schrecklichen Tatsachen, vor die Vitória mehrwerdend gestellt wird – alle diese Aspekte führt Monteiro auf überzeugende Art und Weise aus.
Kritik gebührt dennoch dem kompositorischen Richtungswechsel des Romans: abrupt und ohne Vorwarnung wird aus der ich-Perspektive die sie-Perspektive.
Dieser ist inhaltlich zwar grundlegend plausibel, führt jedoch zum Ende der Geschichte zu einer unnötigen Distanzierung von der Protagonistin und der Handlung, die beispielsweise mittels einer durchgehenden sie-Perspektive hätte vermieden werden können.
Alternativ hätte der Roman in drei Teile gegliedert werden können, die jeweils aus der Perspektive der relevanten Person geschrieben sind; oder zumindest hätte der Perspektivenwechsel organischer herbeigeführt werden können.
Dies hat bei der Lektüre definitiv gestört.
„Mamã Ju sagt nicht die ganze Wahrheit. Sie weiß,
was mit Rosa passiert ist. Aber sie glaubt, es ist
noch nicht der richtige Zeitpunkt, es zu erzählen.
Es ist noch zu früh.“(211)
Von diesem unbegreiflichen Manöver abgesehen hat Yara Nakahanda Monteiros Debüt einen starken Eindruck hinterlassen: die Autorin schildert mit einer markanten Stimme die Geschichte eines gespaltenen Landes und einer zerrissenen Familie ohne Hoffnung auf Heilung.
Zeitgleich fängt die Autorin mit Liebe zum Detail und in aufmerksamen Reflexionen die lebensbejahende Stimmung und grundlegende Resilienz einer Gemeinde inmitten von allgemeiner Hoffnungslosigkeit und Armut ein.
Für Lesende, die an einer kulturhistorischen Perspektivenerweiterung durch psychologisch komplexe Figuren interessiert sind;
denen waghalsige Entdeckungsreisen durch zerstörte Gebiete sowie gespaltene Familienlandschaften keine Angst machen –
– wird „Schwerkraft der Tränen“ ein interessantes Leseerlebnis bieten können.
Hier geht’s zur Leseprobe.
Bibliografie:
Titel: Schwerkraft der Tränen
Autor:in: Yara Nakahanda Monteiro
Übs.:in: Michael Kegler
288 Seiten | 22,90 € (D)
Erscheinungsdatum: 03.03.2022
Verlag: Haymon
ISBN: 978-3-7099-8153-5
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